Der Umbau des Aachener Stadttheaters durch Heinrich Seeling 1900/01

Das tempelförmige Erscheinungsbild des 1825 eröffneten Aachener Theaters von Johann Peter Cremer wandelte sich radikal in den Jahren 1900/01 aufgrund der preußischen „Polizei-Verordnung, betreffend die baulichen Anlagen und innere Einrichtung von Theatern, Circusgebäuden und öffentlichen Versammlungsräumen“ von 1889. Diese Theaterverordnung, die später auch in den übrigen deutschen Staaten umgesetzt wurde, entstand unter dem Eindruck der zunehmend häufiger und schwerer auftretenden Theaterbrände. Die weltweit mit Entsetzen zur Kenntnis genommenen Theaterbrand-Katastrophen wie beispielsweise im Jahr 1881 in Nizza und in Wien mit zusammen über 580 Toten zeigten deutliche Missstände auf. Daher schrieb der Verordnungsgeber vor, dass alle bestehenden Theater binnen Jahresfrist u.a. durch Einbau eines Eisernen Vorhangs, Umstellung auf elektrisches Licht und Kappen der Gasleitung von der Straße feuersicherer gemacht werden mussten. So wurden im Aachener Theater in den Jahren 1890/91 in zwei Etappen die notwendigen Maßnahmen ausgeführt und zudem 1893 auch noch eine neue stählerne und damit brandsichere Bühne eingebaut.

Längerfristig war jedoch absehbar, dass auch das Problem der zu langen Entleerungszeiten in den Altbauten zu lösen war. Hierfür wurden in der Verordnung – zunächst nur für Neubauten – für jeden einzelnen Rang je zwei baulich voneinander getrennte Treppenhäuser gefordert, die auch Ausgänge direkt ins Freie haben mussten und die außerdem so anzuordnen waren, dass sich die Zuschauer beim Verlassen des Theaters von der Bühne wegbewegen. Aufgrund einer Untersuchung über die Feuergefährlichkeit des Cremerschen Gebäudes beschloss die Stadtverordnetenversammlung 1895, einige auf Theaterarchitektur spezialisierte Büros zu kontaktieren, um Vorschläge für einen Umbau zu erhalten. Letztlich einigte man sich im Mai 1896 mit dem in Berlin ansässigen Architekten Heinrich Seeling (1852‒1932), der sich zu dieser Zeit bereits durch einige Theaterbauten wie dem Essener Stadttheater von 1892 einen Namen gemacht hatte.

Das Aachener Stadttheater nach dem Umbau durch Heinrich Seeling. Quelle: Architekturmuseum der TU Berlin, TBS 001,14.

Seeling legte im Juni 1897 nach einer Ortsbesichtigung seine weitreichenden Umbaupläne vor. Neben Aufstockung um eine Etage und rückseitiger Erweiterung, Neubau des Zuschauerraums und Neugliederung der Eingangshalle sahen seine Pläne auch eine Umgestaltung der Frontseite vor: Diese betrafen nicht nur eine Neudekorierung des Giebelfeldes, sondern hinterfingen den gesamten Schinkelschen Portikus mit einer neuen breiteren und höheren, durch einen Querbau miteinander verbundenen Doppelturm-Architektur, die, wie Seeling schrieb, „dem Giebelbau einen wirksamen Hintergrund“ geben und die Diskrepanz zwischen der Höhe des Portikus' und der neuen Dachhöhe kaschieren sollte.

 

Am 30. November 1897 stimmte die Stadtverordnetenversammlung diesen Plänen zu, Ende Mai 1898 legte der Oberbürgermeister die Umbaupläne dem Aachener Regierungspräsidenten vor, welcher sie an den Provinzial-Conservator der Rheinprovinz in Bonn weiterleitete. Dieser urteilte am 31. Juli nach einer Ortsbesichtigung, dass dem Bau „entschieden Denkmalswert zuzusprechen“ sei, äußerte schwere Bedenken gegen die Umgestaltung der Eingangshalle und empfahl, den gesamten Entwurf sowohl dem Minister der geistlichen Unterrichts- und Medicinal-Angelegenheiten in Berlin als auch dem Conservator der Kunstdenkmäler weiterzuleiten, was im August geschah. Ende Februar 1899 kam die Antwort aus Berlin: Der Minister forderte (nur), den Portikus mit dem Giebelrelief zu erhalten. Trotz einer zwischenzeitlich aufgeflammten lebhaften öffentlichen Debatte in den Tageszeitungen über den Sinn und die Notwendigkeit des Umbauprojekts beschloss die Stadtverordnetenversammlung im Mai 1899 die Ausführung der Pläne. Die Bauarbeiten begannen im Juli 1900 mit dem Abriss des Zuschauerraums. Am 16. November 1901 wurde das neue Haus eröffnet.

Grundriss des Aachener Stadttheaters nach dem Umbau durch Heinrich Seeling. Rekonstruktion von Rudolf Bertig.

Das Theater glich nun im Inneren einem Neubau und hatte sich auch äußerlich stark verändert. Jetzt führten von der Eingangshalle vier Treppen zum II. und III. Rang. Unter dem angehobenen Dach wurde oberhalb des Foyers ein neuer Erfrischungsraum für die Besucher des III. Rangs geschaffen. Damit folgte das Aachener Theater den Tendenzen dieser Zeit nach sozialer Trennung des Publikums. Im hinter der Eingangshalle gelegenen und durch Türen abgegrenzten Vestibül befanden sich nun zwei (statt einem) repräsentative Aufgänge zum I. Rang. In den Umgängen des Zuschauerraums wurden Kleiderablagen eingebaut, die es bis dahin, wie in vielen Theaterbauten, nicht gab. Die in den Theatern überall am Anfang des 20. Jahrhunderts vorgenommene Einrichtung von Garderoben war nicht nur den Wünschen des Großbürgertums nach mehr Komfort geschuldet. Es spielten auch Sicherheitsgründe eine Rolle, denn es war bis dahin üblich, seine Jacken überall im Theater abzulegen und sogar über die Treppen-Handläufe zu hängen, was im Brandfall zunehmend als Möglichkeit von tödlichen Stolperfallen angesehen wurde. Der neue Zuschauerraum mit weiterhin drei Rängen fasste 1.014 Personen, war aber nicht mehr kreisrund, sondern (zugunsten eines besseren Blicks zur Bühne) U-förmig und ohne Säulen. Das neugestaltete Foyer blieb in Anlehnung an die frühere Innenausstattung und mit Benutzung der alten Kapitelle etwas dem klassizistischen Stil Cremers verbunden.

Längsschnitt des Aachener Stadttheaters nach dem Umbau durch Heinrich Seeling. Rekonstruktion von Rudolf Bertig.

Der Hinterbühnen-Bereich wurde um weitere für den anspruchsvoller gewordenen Theaterbetrieb notwendigen Werkstatt-, Lager- und Büroräume und einem Chorprobensaal ergänzt. Hierfür wurde an der Rückfront ein mit einem flachen Mittelrisalit samt Dreiecksgiebel versehener apsisartiger Anbau errichtet, durch den die Theaterrückseite gegenüber den Seitenfassaden plastisch stärker ausgebildet wurde. Die Mittelachse wurde durch eine das Dach übersteigende Panther-Quadriga von Franz Krüger (1849‒1912) betont, die sich über der Rückwand auf einem breiten Sockel mit der Inschrift „ARS LONGA VITA BREVIS“ (Die Kunst ist lang, das Leben kurz) erhob. Plastischer Schmuck befand sich vor allem in den Wandflächen des Risalits. Die Inschrift „DER DARSTELLENDEN KUNST“ und die dort befindlichen Embleme und Figurenreliefs kennzeichneten das Gebäude als Theater, während die Wappenschilder auf den Standort Aachen hinwiesen. Die Seitenfassaden wurden im Bereich der Bühne durch vier Achsen breite Risalite, auf denen ein Dreiecksgiebel auflag, strukturiert. Die Vorderseite des Theaters wurde ebenfalls – wie erwähnt – durch die Errichtung der Zweiturmfront sehr stark verändert. Diese war auf beiden Seiten etwa eine halbe Achse breiter als das eigentliche Gebäude und nahm die insgesamt vier neuen Treppenhäuser zum II. und III. Rang auf. Der Schinkelsche Portikus blieb zwar erhalten, verlor aber seine strukturelle Verbundenheit mit dem Gebäude, da der Giebel nun losgelöst von den Trauf- oder Firstlinien des Hauses wie ein Zitat (oder besser gesagt eine Theaterkulisse) vor der Doppelturmwand stand. Entgegen erster Ideen überhöhte und akzentuierte Seeling die zwei Treppentürme zusätzlich durch Sarkophag-ähnliche Aufsätze, womit sich das Theater besser vor dem Panorama der mittlerweile höher gewordenen Bebauung des Theaterplatzes behaupten konnte.

Im August 1943 brannte das Theater bei einem Bombenangriff aus und wurde von 1948‒1951 in vereinfachten Formen, insbesondere ohne jeglichen Bauschmuck Seelings, wiederaufgebaut.

Sascha M. Salzig M.A.

 

Literatur

Bertig, Rudolf (1976): Theaterbauten der Rheinprovinz in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Aachen: J. A. Meyer. Zugl.: Aachen, Techn. Hochsch., Diss., 1975.

 

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Zuschauerraum des Aachener Stadttheaters nach dem Umbau durch Heinrich Seeling. Quelle: Architekturmuseum der TU Berlin, TBS 001,16.