Wirtschafts- und Verkehrsentwicklung im Westen bis 1871

Durch die Angliederung der Rheinlande und Westfalens fiel Preußen ein ungeheures wirtschaftliches Potenzial zu. Mit dem Aufkommen der Dampfkraft, dem frühen Ausbau eines Eisenbahnnetzes, mit der damit zusammenhängenden rasant zunehmenden Steinkohleförderung und der dynamischen Entwicklung der Montanindustrie wandelten sich die alten, bereits weit entwickelten Gewerberegionen im Westen in wenigen Jahrzehnten zu frühen Industrierevieren in einem nach wie vor noch ländlich geprägten Umfeld. Die hier ansässige, liberale wirtschaftliche Führungsschicht war auf die westeuropäischen Märkte ausgerichtet und an einem staatsfreien Wirtschaften interessiert.

„Kreis u. Fabrikstadt Solingen“, Unbekannt, München 1829, kol. Lithographie nach J. H. Knotte, Unterschrift: Zum Besten einer Waisen- und Armen-Anstalt herausgegeben von Friedr. Amberger in Solingen, 1829 © LVR-Niederrheinmuseum Wesel

Während die preußischen Reformen nach 1815 in vieler Hinsicht durch die einsetzende Restauration blockiert wurden, blieb die staatliche Ökonomie unter der Obhut von Reformbeamten, die als Schüler von Adam Smith von einer liberalen, freihändlerischen Wirtschaftsordnung überzeugt waren. Mit Christian Peter Beuth und Karl Georg Maaßen stammten zwei führende Beamte der einschlägigen Zentralressorts vom Niederrhein. Ihre grundsätzlichen ökonomischen Vorstellungen stimmten mit denjenigen der kapitalkräftigen und innovationsfreudigen rheinischen Unternehmer weitgehend überein. 

Die frühen Klagen der Rheinländer über unverhältnismäßig hohe Steuern waren gerechtfertigt und wesentlich der angespannten gesamtstaatlichen Finanzlage geschuldet. Alles in allem jedoch profitierte auch die Rheinprovinz erheblich von der Einheirat „in en erm Famillich“. (So soll der Kölner Bankier Abraham Schaafhausen 1815 die neue Zugehörigkeit zu Preußen beurteilt haben).

Viele Bestandteile des Französischen Rechts, das im Rheinland weiterhin in Geltung blieb, hatten positive Auswirkungen auch auf den wirtschaftlichen Bereich. Mit den Handelskammern ließ Preußen bewährte französische Institutionen wiedererstehen, die nach dem Muster der 1830 in Elberfeld errichteten Kammer in der Rheinprovinz und seit 1848 im gesamten Staat eingerichtet wurden. Eine unmittelbare staatliche Gewerbeförderung, etwa durch Maschinenschenkung und Kapitalbeteiligung erfolgte in den Westprovinzen zumeist nur dann, wenn bereits private Initiativen vorausgegangen und privates Kapital investiert worden waren. 

Vor allem brachte die „große“ staatliche Wirtschaftspolitik dieser Jahrzehnte generelle Vorteile für die rheinische Wirtschaft mit sich. Das preußische Zollgesetz von 1818 öffnete den Produkten aus den westlichen Gebieten zunächst den eigenen Binnenmarkt. Die Gründung des Deutschen Zollvereins 1834 unter preußischer Federführung dann ließ einen einheitlichen deutschen Binnenmarkt entstehen, was gerade jene preußische Provinz begünstigte, die mit dem Rhein über den bedeutendsten europäischen Handelsweg verfügte.

Die Zollunion beförderte auch den frühen Ausbau eines Eisenbahnnetzes in den Westprovinzen. Dabei hielt sich der preußische Staat hinter dem privaten Kapital zurück und beschränkte sich auf Zinsgarantien, Vorkaufsrechte und Konzessionierung. Bei der Finanzierung traten besonders rheinische Unternehmer und Bankiers in den Vordergrund, die als liberale Politiker wenig später auch im Gesamtstaat eine führende Rolle spielten. Die Köln-Aachener Strecke ermöglichte 1841 den Eisenbahn-Anschluss an und verbesserten Absatz in westeuropäische Länder. Der bis 1847 abgeschlossene Bau der Köln-Mindener Eisenbahn stellte das bedeutendste Großprojekt der früheren Eisenbahngeschichte in Deutschland dar, das maßgeblichen Anteil an der Entwicklung des Ruhrgebiets zum industriellen Zentrum hatte. 1859 kam die linksrheinische Bahnstrecke über Köln, Koblenz bis Mainz hinzu. Die Erweiterung der Binnenhäfen in Köln, Mülheim, Düsseldorf, und Duisburg-Ruhrort stellten ebenfalls infrastrukturelle Verbesserungen für Produktion und Handel dar. 

Während der Revolution von 1848/49 stellte die liberale wirtschaftsbürgerliche Elite des Rheinlands mit Ludolf Camphausen einen preußischen Ministerpräsidenten und drei weitere Minister. 1848 kam es zur Errichtung eines preußischen Ministeriums für Handel und Gewerbe, das von 1848 bis 1869 mit kurzen Unterbrechungen von dem Elberfelder Bankier August von der Heydt geleitet wurde. In dieser Phase weitete sich das industrielle Wirtschaftswachstum dynamisch aus und fand die Übernahme liberaler französisch-rheinischer Vorstellungen und Forderungen in der privatrechtlichen und staatlichen Wirtschaftsordnung Preußens ihren Abschluss. Auch das Berg- und Hüttenwesen, in Preußen bislang völlig unter staatlicher Leitung, wurde 1865 der privaten Wirtschaft geöffnet. 

Die bisherige preußische Gesetzgebung und Verwaltung hatten durchweg eine liberale Wirtschaftspolitik beachtet und damit den wohl effektivsten Integrationsfaktor zwischen dem Gesamtstaat und der Rheinprovinz geschaffen. Nach der Jahrhundertmitte entwickelten sich die Rheinprovinz und Westfalen insgesamt zum wichtigsten industriellen Ballungszentrum Kontinentaleuropas und trugen wesentlich zum Aufstieg Preußens zur Wirtschaftsmacht bei. Die zunehmende Industrialisierung stieß allerdings auch einen grundlegenden gesellschaftlichen Strukturwandel an, der gekennzeichnet war durch Landflucht, Verstädterung, Auflösung alter Milieus und soziale Ungleichheit. 

Literatur: 

Kurt Düwell/ Wolfgang Köllmann (Hg.), Rheinland-Westfalen im Industriezeitalter, Bd.1, Von der Entstehung der Provinzen bis zum Industriezeitalter, Wuppertal 1983

Hansjoachim Henning, Aspekte preußischer Wirtschaftspolitik im Rheinland während des 19. und frühen 20. Jahrhunderts, in: Georg Mölich/ Meinhard Pohl/ Veit Veltzke (Hg.), Preußens schwieriger Westen, Rheinisch-preußische Beziehungen, Konflikte und Wechselwirkungen, Duisburg 2003, S. 351-373

Jürgen Herres und Bärbel Holtz, Rheinland und Westfalen als preußische Provinzen (1814-1888), in: Georg Mölich/ Veit Veltzke/ Bernd Walter (Hg.), Rheinland, Westfalen und Preußen. Eine Beziehungsgeschichte, Münster 2011, S. 113-208

Wilfrid Reininghaus/ Karl Teppe (Hg.), Verkehr und Region im 19. und 20. Jahrhundert, Westfälische Beispiele, Forschungen zur Regionalgeschichte (Bd. 29) und Untersuchungen zur Wirtschafts-, Sozial- und Technikgeschichte (Bd. 18), hg. von der Gesellschaft für Westfälische Wirtschaftsgeschichte e.V., Dortmund, Paderborn 1999

Hartwin Spenkuch, Preußen – eine besondere Geschichte. Staat, Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur 1648-1947, Göttingen 2019, S. 49-71

Wilhelm Treue, Wirtschafts- und Technikgeschichte Preußens (= Veröffentlichungen der Historischen Kommission zu Berlin, Bd. 56), Berlin [u.a.] 1984

Weitere Informationen: 

Biografie von Christian Peter Beuth im Portal Rheinische Geschichte
Biografie von Ludolf Camphausen im Portal Rheinische Geschichte
Biografie von August von der Heydt im Portal Rheinische Geschichte

Unterthemen: 

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Portrait: Christian Peter Wilhelm Beuth
Christian Peter Wilhelm Beuth, Direktor der Abteilung für Handel, Gewerbe und Bauwesen im preußischen Innenministerium, Bormann, verm. Berlin um 1835, Lithographie © LVR-Niederrheinmuseum Wesel
Relief-Medaillon, Prämienmedaille, Allegorie der Industrie über Preußen-Adler und Umschrift: Königlich Preußische Prämienmedaille für Gewerbliche Leistungen, Entwurf Karl Fischer, Berlin 1859, Zinkguss vergoldet © LVR-Niederrheinmuseum Wesel