BIOGRAPHIEN

Preußen und die Rheinprovinz unter nationalsozialistischer Herrschaft

Das Weiterwirken fragmentarischer preußischer Strukturen und preußisch geprägter Funktionsträger nach 1933 gehört zur preußische Nachgeschichte. Von einem preußischen Staat konnte nach der Beseitigung seiner Eigenständigkeit, der Auflösung seiner traditionellen partizipativen Strukturen, der Aushöhlung von Rechtsstaatlichkeit und Verwaltungsrationalität durch Führerprinzip und parteiliche Einflüsse nicht mehr die Rede sein.

Preußen unterlag so 1933/34 einer Gleichschaltungspolitik, die die Verwaltung auch der Rheinprovinz nach nationalsozialistischen Prinzipien umformte. Obwohl sich der sprunghafte Anstieg der Stimmen für die NSDAP während der Reichstagswahlen im September 1930 und im Juli 1932 auch in allen vier Wahlkreisen der Rheinprovinz zeigte, lag ihr Ergebnis im Rheinland doch deutlich unter dem Reichsdurchschnitt. Während die NSDAP 1932 bei den Wahlen zum Reichstag und preußischen Landtag führte, hatte sich das Zentrum im Rheinland als stärkste Kraft behauptet. 

Gleich zu Beginn der Reichskanzlerschaft Hitlers begann der nationalsozialistische Zugriff auf preußische Institutionen. So wurde in dem unter seiner Führung am 30. Januar 1933 gebildeten Kabinett der Minister ohne Geschäftsbereich Hermann Göring kommissarisch mit der Leitung des preußischen Innenministeriums betraut. Göring erhielt damit die Verfügungsgewalt über die preußische Polizei, die er, vermehrt um eine aus SA, SS und Stahlhelm gebildeten Hilfspolizei, auf der Grundlage der Reichstagsbrandverordnung des Reichspräsidenten vom 28. Februar 1933 rücksichtslos zur Ausschaltung politischer Gegner bzw. der aufgrund der eigenen Feindbilder stigmatisierten Personen einsetzte. Auch die preußischen Behörden unterlagen nun zum Teil einer entsprechenden "Säuberungspolitik".

Das 2. Gleichschaltungsgesetz vom 7. April 1933 bestimmte den Reichskanzler Adolf Hitler zum Reichsstatthalter für Preußen, der das Recht zur Einsetzung der Landesregierung besaß. Am 11. April ernannte er seinerseits Hermann Göring zum preußischen Ministerpräsidenten und übertrug ihm (widerruflich) seine Befugnisse als Reichsstatthalter. Das von Göring nun innerhalb der preußischen Polizei gebildete "Geheime Staatspolizeiamt" entwickelte sich zum Instrument des Terrors, auch wenn es aus pragmatischen Gründen bemüht war, die „wilde Phase“ der Konzentrationslager zu überwinden. Ministerpräsidenten und Staatsminister wurden von Hitler berufen. Gesetze des Staatsministeriums bedurften laut 1. Gleichschaltungsgesetz vom 31. März 1933 der Zustimmung des zuständigen Reichsministers.

Im Frühjahr 1933 besetzte man die höchsten Ämter der preußischen Provinzen, die Oberpräsidien, neu: überwiegend mit alten Parteigenossen. Im Rheinland wurde allerdings vorerst mit Hermann Freiherr von Lüninck, wohl auf Betreiben Vizekanzlers von Papens ein katholischer Kompromisskandidat der DNVP zum Oberpräsidenten ernannt. Hermann von Lüninck und dessen Bruder Ferdinand, der aus ähnlichen Gründen 1933 zum Oberpräsidenten von Westfalen ernannt wurde, gehörten beide später zum Beziehungsgeflecht des 20. Juli. 1935 erklärte Hermann von Lüninck nach ständigen Gauleiter-Eingriffen in seinen Amtsbereich den Rücktritt und wurde vom Essener Gauleiter Josef Terboven abgelöst. Zunächst kam es jedoch zu einer deutlichen Vermehrung der Befugnisse der neuen Oberpräsidenten und wurde ihnen per Gesetz am 15. Dezember 1933 - dem Führerprinzip folgend - die "klare Befehlsgewalt" über die Verwaltung ihrer Provinz zugesprochen. Am gleichen Tag erfolgte mit dem neuen preußischen Gemeindeverfassungsgesetz die Aufhebung aller Provinziallandtage und Kommunalvertretungen: ein eklatanter Bruch mit den Traditionen preußischer Selbstverwaltung. An die Spitze des rheinischen Provinzialverbandes trat bereits am 11. März 1933 nach dem Tod von Johannes Horion (19. Februar 1933) der katholische Nationalsozialist Heinz Haake. Seine Wahl im Provinziallandtag war nach der Blockierung der SPD-Stimmen eine reine Formsache.

Besonders stark traf die neue Personalpolitik die Spitzenbehörden des preußischen Polizeiapparates. Hier wurden in der Rheinprovinz bereits zwischen Februar und August 1933 neun Polizeipräsidenten abgelöst und überwiegend durch Parteifunktionäre ersetzt. Im Gegensatz zum bis 1933 verfolgten Prinzip, überwiegend Fachbeamten in diese Stellungen zu bringen, waren 25 der bis 1944 neu ernannten 27 Polizeipräsidenten im Rheinland Seiteneinsteiger aus den NS-Funktionselite. Hier wurden schon früh Grundlagen für die Rolle der Polizei in der Terror- und Vernichtungspolitik des Nationalsozialismus gelegt.

War schon im ersten Jahr der Reichskanzlerschaft Hitlers die Eigenständigkeit preußischer Landesbehörden faktisch beseitigt, wurde im Folgejahr eine neue Eskalationsstufe erreicht. Das Gesetz über den Neuaufbau des Reiches vom 30.1.1934 hob wie in allen Ländern so auch in Preußen die Landtage auf und machte die jeweiligen Landesregierungen zu nachgeordneten Behörden der Reichsregierung. Bis Mitte 1934 gingen dann bis auf das Finanzministerium sogar sämtliche preußische Ministerien in den jeweiligen Reichsministerien auf. 

So erstrebte die nationalsozialistische Führung nicht etwa die Bewahrung "Preußens", sondern die, wie die einschlägigen Schriften unschwer erkennen lassen, eines imaginären "Preußentums" , das im Sinne des nationalsozialistischen Führerprinzips und seines Mechanismus von Befehl und Gehorsam verkürzt, umgedeutet und als völkische Pflicht- und Opferideologie sakralisiert wurde. So behauptete Goebbels im Wahlkampf zum neuen preußischen Landtag 1932: „Wo immer wir Nationalsozialisten auch stehen, in ganz Deutschland sind wir die Preußen. Die Idee, die wir tragen, ist preußisch.“

Anknüpfen konnte man hier an die Preußen-Diskussion der Weimarer Republik, die etwa mit Oswald Spenglers „Preußentum und Sozialismus“ (1919) oder Arthur Moeller an den Brucks „Der preußische Stil“ (1916/1922) eine Interpretationsmethode vorgegeben hatte, die eine preußische „Gesinnung“ von den jeweiligen historischen Kontexten ablöste. Bezeichnend für die pseudoreligiösen Interpretationen und Verkürzungen der Preußenthematik im Nationalsozialismus ist der Umgang mit der Gestalt Friedrichs des Großen, die in die Sphäre einer übermenschlichen Führer- und Erlöserfigur erhoben wurde, ohne dass dessen Ideen von Aufklärung, Toleranz und Rechtsstaatlichkeit angemessen rezipiert wurden.

Maßgeblichen Einfluss auf diese politische Instrumentalisierung Preußens übte der Reichspropagandaminister Josef Goebbels selbst aus, der aus einer katholischen Familie von Rheydt am Niederrhein stammte, wenngleich gebürtige Preußen in der nationalsozialistischen Führungsschicht eher unterrepräsentiert waren. Die Inszenierung des sogenannten „Tages von Potsdam“: der feierlichen Eröffnung des Reichstages nach Reichstagsbrand und Märzwahlen 1933 in der Potsdamer Garnisonkirche am 21. März 1933 ging zwar nicht ursächlich auf den Propagandaminister zurück, wurde aber mit den ihm zur Verfügung stehenden medialen Möglichkeiten im Bewusstsein der deutschen Gesellschaft verankert. Der zentrale Festakt in Potsdam mit Hindenburg und Hitler, mit „Marschall und Gefreiten“, sowie der Veranstaltungsreigen in den Provinzen signalisierten den Eliten und weiten bürgerlichen Kreisen - zwei Tage vor der Verabschiedung des Ermächtigungsgesetzes am 23. März 1933 - die Einbindung des Nationalsozialismus in ein Gefüge konservativer Politik- und Wertvorstellungen. Beispielhaft für den breiten bürgerlichen Schulterschluss steht die Feier des „Tages von Potsdam“ auf dem Kölner Neumarkt, zu der die Gauleitung aufgerufen hatte. Hier beteiligte sich neben den Organisationen von Staat und Partei, eine Vielzahl von Vereinigungen, die bis zu Sportvereinen und katholischen Verbänden reichte.

Diese Indienstnahme Preußens für propagandistische Zwecke, die von Goebbels als Herr der Medien und den anderen nationalsozialistischen Mittlern politischer Bildung verbreitet wurde, blieb nicht ohne Wirkung. Sie ist allerdings nur eine von vielen der nationalsozialistischen Beutezüge im Reservoir deutscher Geschichte und Kultur. Sicher vermochte der Nationalsozialismus mit seinem Blick auf Preußen auch an reale Elemente der preußischen Tradition wie Staatsgläubigkeit, Ausrichtung an dem Prinzip formaler Legalität und individuelle Zurücknahme gegenüber einer soldatischen Gehorsamspflicht anzuknüpfen.

Das Bild der Preußenrezeption unter nationalsozialistischer Herrschaft ist jedoch komplex. Als Gegenpol zu diesen Verflachungen und Fehldeutungen sind etwa die geistigen Hintergründe des Widerstandskreises des 20. Juli zu sehen, dessen Angehörige überwiegend dem ostelbischen preußischen Adel zuzurechnen waren. Für viele von ihnen war ein Verständnis preußischer Tugenden maßgebend, das sich mit christlich-pietistischen Prägungen, mit Recht und Gerechtigkeit und einer sittlichen Pflicht zum Ungehorsam gegen Inhumanität und Barbarei verband. Zwischen beiden Polen gab es viele Zwischentöne. Erfahrungen mit einer NS-Verwaltungspolitik, die mit der Einrichtung verschiedenster Sonderbeauftragten und unkontrollierbaren Parteieinflüssen die Rationalität preußischen Verwaltungshandelns zunehmend untergrub, trugen dazu bei, ein kritisches Verhältnis zum Nationalsozialismus zu entwickeln. Zahlreiche Vertreter der Widerstandsgruppe des 20. Juli wie auch des politisch und sozial breiter angelegten Kreisauer Kreises besaßen engere Verbindungen zum Kölner Kreis, in dem sich ein katholischer, demokratisch orientierter Widerstand in Rheinland und Westfalen formiert hatte. Aus diesem Netzwerk der Widerstandskreise: eines stark protestantisch-konservativen ostdeutschen Flügels mit einer katholisch westdeutschen Gruppierung führt eine Linie in die Gründungsphase der Christlich-Demokratischen Union nach dem Zweiten Weltkrieg.

Vor allem auf Betreiben der britischen Besatzungsmacht trat erst zwei Jahre nach Kriegsende – nachdem die lange Zeit widerstrebenden Russen ihren Widerstand gegen die Beseitigung Preußens aufgegeben hatten – am 25. Februar 1947 das Alliierte Kontrollratsgesetz Nr. 46 in Kraft. Hier wurde nun der faktisch längst nicht mehr existente Staat Preußen - dem westalliierten Preußen-Syndrom folgend - mit der Begründung aufgelöst, es sei seit jeher Träger des Militarismus und der Reaktion in Deutschland gewesen. Tatsächlich knüpfte das 1946 gegründete Bundesland Nordrhein-Westfalen in Regierung und Verwaltung, Bildung und Kultur vielfach an preußische Traditionen an.

Literatur:

Hans-Jürgen Bömelburg/ Andreas Lawaty, Einleitung, in: Hans-Jürgen Bömelburg, Andreas Lawaty (Hg.) Preußen. Deutsche Debatten 18.- 21. Jahrhundert. Eine Anthologie, Stuttgart 2018, S. 9-93

Ekkehard Klausa, Vom Bündnispartner zum „Hochverräter“. Der Weg des konservativen Widerstandskämpfers Ferdinand von Lüninck, in: Karl Teppe (Hg.), Westfälische Forschungen. Zeitschrift des Westfälischen Instituts für Regionalgeschichte des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe 43/1993, S. 530-571

Horst Lademacher, Die nördlichen Rheinlande von der Rheinprovinz bis zur Bildung des Landschaftsverbandes Rheinland (1815-1953), in: Rheinische Geschichte in drei Bänden, hg. von Franz Petri, Georg Droege, Düsseldorf 3. Aufl. 1980, Bd.2. Neuzeit, S. 475-867

Biografie von Hermann Freiherr von Lüninck im Portal Rheinische Geschichte (abgerufen am 03.11.2020) 

Lars Lüdicke, Inszenierung und Instrumentalisierung. Der „Tag von Potsdam“, in: Michael C. Bienert, Lars Lüdicke (Hg.), Preußen zwischen Demokratie und Diktatur. Der Freistaat, das Ende der Weimarer Republik und die Errichtung der NS-Herrschaft 1932-1934, Berlin 2018, S. 241-270

Horst Matzerath, Köln in der Zeit des Nationalsozialismus 1933-1945 (Werner Eck (Hg.), Geschichte der Stadt Köln, Bd. 12), Köln 2009, S. 101

Hans Mommsen, Preußentum und Nationalsozialismus, in: Wolfgang Benz, Hans Buchheim, Hans Mommsen (Hg.), Der Nationalsozialismus. Studien zur Ideologie und Herrschaft, Frankfurt a.M. 1995, S. 29-41 

Horst Romeyk, Die leitenden staatlichen und kommunalen Verwaltungsbeamten der Rheinprovinz 1816 – 1945 (Publikationen der Gesellschaft für rheinische Geschichtskunde LXIX) Düsseldorf 1994, S. 81, 127, 130, 133, 135, 280

Gerd Rühle, Das Dritte Reich. Dokumentarische Darstellung des Aufbaues der Nation. Mit Unterstützung des Deutschen Reichsarchivs, Das erste Jahr 1933, 2. Aufl., Berlin o.J., S. 26-43, 51-62, 104-116 

Martin Sabrow, Der „Tag von Potsdam“ – Zur Geschichte einer fortwährenden Mythenbildung (PDF) (abgerufen am 06.11.2020)

Veit Veltzke, „Über den Tod hinaus“: Gedanken über die Beziehung Nordrhein-Westfalens zu einem untergegangenen Staat, in: Georg Mölich/ Veit Veltzke/ Bernd Walter, Rheinland, Westfalen und Preußen. Eine Beziehungsgeschichte, Münster 2011, S. 381-398

Bernd Walter, Rheinland, Westfalen, Preußen und der Nationalsozialismus, in: Georg Mölich/ Veit Veltzke/ Bernd Walter, Rheinland, Westfalen und Preußen. Eine Beziehungsgeschichte, Münster 2011, S. 353-379

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Plakat: SA-Mann hinter der Maske Friedrichs des Großen
Plakat, SA-Mann hinter der Maske Friedrichs des Großen, unbekannt, 1933, Reproduktion © LVR-Niederrheinmuseum Wesel

Die als Reaktion auf den „Tag von Potsdam“ erschienene Darstellung enthüllt die Instrumentalisierung preußischer Symbole und Traditionen durch den Nationalsozialismus und weist auch auf den Übertritt zahlreicher Kommunisten in die SA um 1933 hin.