Karl Freiherr von Ingersleben – erster Oberpräsident der preußischen Rheinprovinz(en)

Die (fehlende) Gründung der preußischen Rheinprovinz 1822

Am 27. Juni 2022 jährt sich die Entstehung der preußischen Rheinprovinz zum 200. Mal. Die Provinz im Westen der preußischen Monarchie entstand aus der Zusammenlegung der Provinzen Jülich-Kleve-Berg und Großherzogtum Niederrhein. Die Grenzen des Verwaltungsgebildes von Kleve im Norden bis Saarbrücken im Süden gingen auf die Neuordnung Europas im Zuge des Wiener Kongresses 1815 zurück und beruhten auf diplomatischen Beziehungen, pragmatischen Überlegungen und sicherheitspolitischen Interessen. Sie hatten 131 Jahre bestand und sind noch heute in institutionellen, kulturellen und landschaftlichen Strukturen erkennbar. Mentalitätsgeschichtlich kann die preußische Rheinprovinz sogar als Grundlage für eine kollektive Identität gewertet werden, die in spezifisch „rheinischen“ Selbstbildern und Fremdzuschreibungen weitertradiert wird. Doch warum erinnert niemand daran?

Auf der Suche nach einer Antwort fällt auf, dass selbst ausgewiesenen Kennern der Regionalgeschichte das Gründungsdatum der Provinz per Kabinettsorder vollkommen unbekannt ist. Die geringe erinnerungspolitische Relevanz der Rheinprovinz steht in Kontrast zu so manchem rheinischen Selbstbewusstsein, das die jeweilige Person aus der ehemaligen Rheinprovinz mit den Zeitgenossen teilte. Doch auch diese zeigten im Frühjahr des Jahres 1822 kaum Interesse an dem historischen Raumbildungsprozess. Als Karl Ludwig von Ingersleben als amtierender Oberpräsident der Provinz Großherzogtum Niederrhein nach dem Tod seines Kölner Amtskollegens Friedrich August Graf zu Solms-Laubach die Verwaltungsgeschäfte der benachbarten Provinz Jülich-Kleve-Berg übernahm, erfuhren die Leserinnen und Leser des offiziellen Anzeigers an seinem Dienstsitz in Koblenz, d. h. in der neuen Hauptstadt der Provinz, nichts von den Veränderungen. Abgesehen von einer kurzen Bekanntmachung auf der Titelseite der Kölnischen Zeitung und der feierlichen Beisetzung des beliebten Kölner Oberpräsidenten blieben öffentliche Kundgebungen aus. Ein Gründungsakt ist nicht überliefert. Im Staatsministerium hatte man darüber nach Ausweis der Protokolle nicht gesprochen. Auch die Kölner Stadtväter blieben ungewöhnlich untätig, obwohl sie für ihr ausgeprägtes reichsstädtisches Selbstbewusstsein und einen nicht unerheblichen Einfluss auf die öffentliche Meinung bekannt waren. In einer Stadtratssitzung vom 8. Mai 1822 verabschiedeten sie eine Petition an den König, in der sie lediglich für den Erhalt der nachgeordneten Verwaltungsebene und nicht für den Hauptstadtstatus eintraten.

In der Rückschau lassen sich drei mögliche Gründe für das ungewöhnliche Desinteresse der knapp 1,9 Millionen Einwohnerinnen und Einwohner der beiden Westprovinzen anführen. Erstens lässt sich mutmaßen, dass die Zurückhaltung der Stadträte vorangegangenen Skandalen um die Personal- und Finanzpolitik am Kölner Oberpräsidium geschuldet war. Auch konnten die Repräsentanten der Wirtschaftsmetropole keine historischen Ansprüche auf eine zentrale Verwaltungsfunktion geltend machen, zumal sich die ehemalige Residenzstadt Koblenz bereits unter zwei verschiedenen Landesherren als Verwaltungszentrum bewährt hatte.

Zweitens spricht eine ähnliche, aus der Perspektive des Innenministeriums durchaus abwegige Bittschrift für den Erhalt des Verwaltungssitzes des Koblenzer Stadtrats nach dem Tod von Karl Friedrich von Ingersleben fast zehn Jahre später dafür, dass die preußische Verwaltungsordnung stets als Provisorium wahrgenommen wurde. Nach gleich zwei fundamentalen politischen Umschwüngen und einer wechselhaften preußischen Übergangsverwaltung konnten die Stadträte am Beginn des 19. Jahrhunderts noch nicht wissen, dass mit dem Beginn der preußischen Herrschaft eine Phase der politischen Konsolidierung und des europäischen Friedens eingeläutet wurde, die ein halbes Jahrhundert Bestand hatte. Zum Zeitpunkt der Gründung der preußischen Rheinprovinz existierte keine gesamtstaatliche Gesetzgebung. Die erhoffte Einlösung des vom Monarchen gegebenen Verfassungsversprechens schien nach dem Inkrafttreten der Karlsbader Beschlüsse 1819 in weiter Ferne zu sein. Das für fortschrittlich erachtete französische Justizwesen wurde unaufhörlich gegen die Übertragung des Allgemeinen preußischen Landrechts verteidigt und eine Anpassung der französischen Kommunalordnung ließ bis 1845 auf sich warten. Selbst der Name „Rheinprovinz“ schlich sich erst allmählich in die Verwaltungssprache ein. Stattdessen wurde von den ihr zugeordneten Regierungsbezirken Aachen, Düsseldorf, Köln, Koblenz und Trier bis zu Beginn der 1830er Jahre im Plural („Rheinprovinzen“) gesprochen.

Drittens kann die - zugegeben etwas gewagte - Behauptung aufgestellt werden, dass mit den historischen Worten Willy Brandts im Jahr 1822 das zusammenwuchs, was für viele in gewisser Weise bereits zusammengehörte. Besonders die Angehörigen der oberen sozialen Schichten in den Städten hatten von der vorangegangenen Franzosenzeit (1794-1813/14) profitiert und zielten nach 1815 auf die Verteidigung revolutionärer Errungenschaften und neugewonnener Partizipationsrechte ab. Auf der Basis kollektiver Erfahrungswerte teilten sie gemeinsame Erwartungshaltungen, die sie nach dem Herrschaftswechsel öffentlich artikulierten und letztlich enttäuscht sahen. Dabei wurde der erste Besuch des neuen Staatsoberhauptes, seines Sohnes und seines Staatskanzlers in den Jahren 1817/18 zum Anlass genommen, ihnen etliche lokalspezifische Verbesserungsvorschläge und allgemeine Bitten unmittelbar und in mehrfacher schriftlicher, mündlicher und symbolischer Ausführung mitzuteilen. Durch informelle Abstimmungsformen und historisch gewachsene Beziehungen verdichteten sich diese situativen Partizipationsversuche zu einer Petitionsbewegung, die auf den Erlass einer Verfassung abzielte. Diese Verfassungsbewegung umfasste alle rheinischen Bezirksregierungsstädte, beschränkte sich jedoch nicht nur auf die preußischen Provinzen und wurde von der Presse mit Spannung verfolgt. Diese druckte ein Jahr später in Koblenz eine weitere Petition des Stadtrats ab, die an den König adressiert war und die preußische Steuerpolitik kritisierte. Die scharf formulierte Beschwerde wurde ungeachtet der geringen Auflage des Koblenzer Anzeigers im Trierer Stadtrat verlesen und im Kölner Stadtrat diskutiert. Sie brachte eine weitere Petitionsbewegung ins Rollen, die nicht nur den Ärger über das neue Steuergesetz, sondern auch das kollektive Selbstbild der „Rheinprovinzen“ öffentlich zum Ausdruck brachte. Es spricht für sich, dass dieses Zugehörigkeitsgefühl dabei zuerst an den Orten demonstriert wurde, die sich nicht am Rhein befanden. Die Aachener Stadträte schrieben am 18. August 1819 im Namen „aller großen Städte der Rheinprovinzen“ an den Staatskanzler und konstatierten, dass „alle diese Städte [...] durch die neuen Steuergesetze hinsichtlich ihres Finanzwesens in den unendlichen unglücklichen Zustand versunken [seien] wie die Stadt Aachen.“ An der Mosel wurde der König am 11. August 1819 darüber belehrt, dass „das Gesetz unmöglich diese Gestalt für die Rheinprovinzen“ angenommen hätte, wenn „die Rheinprovinzen bey der Abfassung des Gesetzes eine bewilligende Stimme gehabt“ hätten. In diesen frühen Zeugnissen kollektiver Identitätsbildungsprozesse kündigte sich das an, was in der wechselhaften Beziehungsgeschichte zwischen Preußen und der Rheinprovinz stets eine unterschwellige Rolle spielte: Die Tatsache, dass sich „in einem relativ kurzen Zeitraum ein Selbstbewusstsein, eine regionale Identität, in Opposition zur preußischen Integrationspolitik und in Abgrenzung zu ‚Alt'-Preußen herausbildete“ (Jürgen Herres), die einen offiziellen Gründungsakt der Provinz schlichtweg überflüssig machte.

(Katharina Thielen, 27.06.2022)

Quellen und Literatur

Bezirksregierung Köln (Hg.): 150 Jahre Regierungsbezirk Köln. Berlin 1966.

Herres, Jürgen: ‚Und nenne euch Preußen!' Die Anfänge preußischer Herrschaft am Rhein im 19. Jahrhundert, in: Gestrich, Andreas/Schnabel-Schüle, Helga (Hg.): Fremde Herrscher - fremdes Volk. Inklusions- und Exklusionsfiguren bei Herrschaftswechseln in Europa. Frankfurt a. M. u.a. 2006 (Studien zu Fremdheit und Armut von der Antike bis zur Gegenwart 1), S. 103-138.

Historisches Archiv der Stadt Köln Bestand 410 Beschlussbücher/Protokolle A1 Protokolle des Stadtrats (1813-1821), A7 Beschlussbuch des Stadtrats (1819-1826).

Koblenzer Anzeiger Nr. 27 (2.7.1819), Nr. 26 (28.6.1822)-Nr. 40 (4.10.1822).

Kölnische Zeitung Nr. 33 (26.2.1822), Nr. 54 (4.4.1822), Nr. 146 (5.9.1822), Nr. 365 (31.12.1845), Nr. 1 (1.1.1846), online unter URL: zeitpunkt.nrw/ulbbn/periodical/titleinfo/9715712 (Aufruf am 5.5.2022).

Koselleck, Reinhart: ‚Erfahrungsraum' und ‚Erwartungshorizont'. Zwei historische Kategorien, in: Ders., Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten. Frankfurt a. M. 1979, S. 349-375.

Stadtarchiv Trier Tb 100/7 Ratsprotokolle (1818), Tb 100/8 Ratsprotokolle (1819-1827).

Stadtarchiv Aachen, OB 41-1 Deputationen und Immediat Vorstellungen (1818-1848), PRZ 1-1 Ratsprotokolle (1819-1821).

Stadtarchiv Koblenz, Bestand 623 Nr. 2186 Stadtratsprotokolle 1818-1822, Nr. 2188 Stadtratsprotokolle 1831-1838.

Sucheingabefeld