Karl Freiherr von Ingersleben – erster Oberpräsident der preußischen Rheinprovinz(en)

Philhellenismus und Unterstützungsvereine

Bereits im 18. Jahrhundert prägte die Wiederentdeckung der altgriechischen Literatur-, Kunst- und Kulturwelt die Idealvorstellung eines europäischen „Abendlandes“. Dabei stand das antike Hellenentum, wie es in romantischen Dichtungen, Erzählungen, Kunstdarstellungen und Reisetagebüchern beschrieben wurde, in Kontrast zu der dort seit 1453 bestehenden Vorherrschaft des osmanischen Reichs. Dem Aufruf zum Aufstand gegen die Osmanen durch den griechischen Offizier Alexander Ypsilantis am 7. März 1821 wurde daher in weiten Teilen der europäischen Öffentlichkeit, allen voran in den höheren sozialen Schichten, Verständnis entgegengebracht. Die darauffolgenden Kampfhandlungen in der Moldau und auf der Peloponnes markierten den Beginn der griechischen Unabhängigkeitsbewegung und beförderten die Griechenlandbegeisterung auf eine neue weltpolitische – aber nicht uneigennützige – Ebene (Konstantinou).

Dieser sogenannte Philhellenismus wurde als überwiegend europäische Bewegung zur Unterstützung der Griechen auch und vor allem im Rheinland populär. Über 250 Männer sollen sich im ersten Jahr der Auseinandersetzungen als Freiwillige zum Kriegsdienst unter griechischer Fahne gemeldet haben – weitaus mehr als in anderen europäischen Regionen (Tischler, S. 127–190). Einen wesentlichen Anteil an dieser breiten Zustimmung hatte die überregionale Presse und Publizistik, die den Konflikt bis zu seinem (aus griechischer Sicht) erfolgreichen Ausgang im Friede von Adrianopel am 14. September 1829 dokumentierte, kommentierte und diskutierte. Dabei waren die Berichterstattung und die öffentliche Wahrnehmung des Krieges durch klischeehafte Vorstellungen von der grausamen Barbarei der Türken auf der einen Seite und der heldenhaften Opferbereitschaft der griechischen Unabhängigkeitskämpfer auf der anderen Seite geprägt und mit einer übersteigerten Erinnerung an die sogenannten Befreiungskriege gegen Napoleon verbunden (Tischler, S. 87–126).

Lithografien, Kleinkunst und Alltagsgegenstände mit griechischen Motiven und einer allgemeinverständlichen Symbolik vermittelten das Geschehen an das nicht lesende Publikum und machten den griechischen Unabhängigkeitskampf zu einem lukrativen Geschäft für Künstler, Krämer und Kaufleute. Dieses Medienecho war umso erstaunlicher, als dass politische Meinungsäußerungen seit den Karlsbader Beschlüssen 1819 unter einer strengen staatlichen Zensuraufsicht – in Preußen sogar häufig strafbewehrt durch eine Gefängnisstrafe – standen. Dahinter verbarg sich eine abwartende Haltung des preußischen Königs inmitten machtpolitischen Erwägungen der anderen europäischen Großmächte, die sich in Teilen hinter die griechischen Aufständischen stellten. Als besonders prominente Verfechter der griechischen Sache traten der amerikanische Präsident James Monroe, der bayrischen König Ludwig I., der französische Außenminister Chateaubriand und sein englischer Kollege George Canning in Erscheinung. Erst nach der aufsehenerregenden Verteidigung der Festung Missolunghi 1826 durch die griechischen Kämpfer kam mit Christoph Wilhelm Hufeland der Leibarzt des preußischen Königs und somit ein Vertreter aus Regierungskreisen hinzu. Sein Hilferuf vom 25. April 1826 verbreitete sich wie ein Lauffeuer in der preußischen Rheinprovinz und führte zum sprunghaften Anstieg lokaler Hilfsinitiativen: sogenannter Griechenvereine (Tischler, S. 69f. und S. 199–203).

 

In der Rückschau lassen sich insgesamt 42 Griechenvereine in den preußischen Westprovinzen nachweisen. Sie setzten sich gemeinsam auf kommunaler, lokaler und internationaler Ebene für die Unabhängigkeit Griechenlands ein und organisierten Geldsammlungen, die in den Zeitungen bekanntgegeben und in die betroffenen Regionen weitergeleitet wurden. Der größte von ihnen, der Bergisch-Märkische Verein, konnte so bereits zwei Monate nach seiner Gründung mit ca. 14.000 Talern mehr als doppelt so viele Gelder spenden als eine entsprechende Vereinsinitiative in der preußischen Hauptstadt. Überhaupt spielte Berlin im internationalen Hilfsnetzwerk für Griechenland nur eine untergeordnete, Friedrich Wilhelm III. sogar ein bremsende, Rolle, indem der preußische Staat direkte militärische Hilfen ablehnte. Das Geld des Bergisch-Märkischen und nahezu aller anderen rheinischen Vereine ging daher nach Paris, wo die Société de la Morale Chrétienne die Spenden bündelte und für humanitäre Hilfsgüter und Waffen gleichermaßen bereitstellte (Tischler, S. 203–301; Klein).

 

Im Vorstand der jeweiligen Lokalvereine fanden sich in der Regel die städtischen Honoratioren​​​ unter der Leitung des Oberbürgermeisters zusammen. Der Koblenzer Oberbürgermeister Abundius Maehler machte die Angelegenheit sogar zur Chefsache bzw. zu einer Verwaltungsangelegenheit, die auf dem Dienstweg, d.h. im schriftlichen Austausch, mit den unteren Verwaltungsbeamten und Pfarrern in der Region bewerkstelligt wurde und rund 2.000 Taler einbrachte. Darüber hinaus wurden Benefizkonzerte von den Koblenzer und Kölner Casinogesellschaften ausgerichtet und Geldsammlungen von den Aachener Freimaurern organisiert. In Köln, Trier, Elberfeld und Mülheim wurden zahlreiche Vorstandsmitglieder der Griechenvereine zudem von ihren Ehefrauen unterstützt. Die dortigen Frauenvereine formierten sich nach dem Vorbild eines Pariser Damen-Vereins und waren nach der Bildung zahlreicher patriotischer Frauenvereine im Zuge der Koalitionskriege strenggenommen nichts Besonderes, sondern ein durchaus übliches Phänomen weiblichen Engagements in der Wohltätigkeit (Reder). Auch die enge Zusammenarbeit der Vereine untereinander und mit dem Pariser Zentralverein lässt sich aus historisch gewachsenen Gewohnheiten, persönlichen Beziehungen und rein pragmatischen Überlegungen ableiten – schließlich hatte man flächendeckende Vereinsinitiativen bereits erfolgreich zugunsten wohltätiger Zwecke im Zuge einer Teuerungskrise 1817/18 umgesetzt (Illner, Organisierung). Die territoriale Nähe zu Frankreich, deutsche Vermittlungspersonen in Paris und gute Geschäftsbeziehungen zwischen den Bankhäusern erleichterten den Geldtransfer. Der Düsseldorfer Verein fungierte als Sammelstelle verschiedener umliegender Vereine, beispielsweise der Duisburger, Neusser und Weseler Griechenvereine, und leitete seine Einnahmen von fast 10.000 Talern an den Trierer Vereinsvorsitzenden, Landrat und Oberbürgermeister Wilhelm Haw, weiter, der wiederum eine verkehrstechnisch sinnvolle Schnittstellenfunktion zum Pariser Zentralverein erfüllte (Tischler, S. 220–226).

 

Dabei war es kein Zufall, dass Haw und zahlreiche andere Griechenlandbegeisterte für eine liberale Einstellung bekannt und wenige Jahre zuvor in einer überregionalen Bewegung für den Erlass einer Verfassung in Preußen eingetreten waren. Es war ein Leichtes, die Forderungen der griechischen Unabhängigkeitskämpfer nach Freiheit und Nationalstaatlichkeit, mit den eigenen politischen Änderungswünschen zu verknüpfen und als Stellvertreterdiskurse einzusetzen. In zahlreichen Städten wurden dazu öffentliche Versammlungen abgehalten, die die Verwendungszwecke der Spendeneinnahmen zur Abstimmung brachten und Gelegenheit zur Meinungsäußerung boten. So manchem konnte dabei die vom griechischen Nationalkongress verkündete und in der lokalen Presse abgedruckte Konstitution als „Lehrstück für seinen, in eigenem Lande unerfüllt gebliebenen Wunsch nach Verfassung dienen“ (Illner, Solidarität, S. 61–63).

Zu den möglichen Motiven des Vereinsbeitritts gehörten demnach nicht nur vermeintlich uneigennützige Formen des christlichen Mitgefühls, sondern auch die Chance der politischen Beteiligung in Zeiten von Zensur und Versammlungsverboten. Da sich diese Wünsche im eigenen Staat mit der Gründung des griechischen Nationalstaates 1829 nicht erfüllten, wurden sie in der Folgezeit wiederholt, im Jahr 1830 auf die polnische Unabhängigkeitsbewegung übertragen und mit neuen, zunehmend konfessionellen Interessen verknüpft. Sowohl der Philhellenismus als auch die Polenbegeisterung können daher als „Teil bürgerlicher Organisations- und Oppositionsbestrebungen“ und somit als wesentlicher Aspekt der frühen Beziehungsgeschichte zwischen Preußen und dem Rheinland bewertet werden (Tischler, S. 393). Vor diesem Hintergrund bildeten die Revolutionen in Europa für viele Rheinländerinnen und Rheinländer eine Projektionsfläche für verschiedene, sich mitunter ausschließende Orientierungsmuster in Bezug auf die eigene Zukunft in Preußen (Evans, S. 71–107).


Mehr zur „Polenbegeisterung“ auf Porta Polonica im LWL-Industriemuseum.

Quellen:

Stadtarchiv Koblenz (StAK) 623 Nr. 2152 Verein zur Unterstützung der Griechen.

Koblenzer Anzeiger 1827.

Kölnische Zeitung. DuMont-Schauberg 1822 und 1827. URL: https://zeitpunkt.nrw/ulbbn/periodical/zoom/7260436 (Aufruf am 20.8.2022).

Literatur:

Evans, Richard J.: Das europäische Jahrhundert. Ein Kontinent im Umbruch – 1815 –1914. München 2018.

Illner, Eberhard: Bürgerliche Organisierung in Elberfeld 1775–1850. Neustadt a. d. Aisch 1982.

Illner, Eberhard (1998): Solidarität der Patrioten. Die Philhellenen- und Polenvereine im Rheinland. In: Ottfried Dascher (Hg.): Petitionen und Barrikaden. Rheinische Revolutionen 1848/49. Münster (Veröffentlichungen der staatlichen Archive des Landes Nordrhein-Westfalen, 29), S. 61–65.

Klein, Natalie: L'humanité, le christianisme, et la liberté: Die internationale philhellenische Vereinsbewegung der 1820er Jahre, Mainz 2000.

Konstantinou, Evangelos: Griechenlandbegeisterung und Philhellenismus, in: Europäische Geschichte Online (EGO), hg. vom Leibniz-Institut für Europäische Geschichte (IEG), Mainz 2012. URL: http://www.ieg-ego.eu/konstantinoue-2012-de URN: urn:nbn:de:0159-2012102202 (Aufruf am 20.8.2022).

Reder, Dirk Alexander: Frauenbewegung und Nation. Patriotische Frauenvereine in Deutschland im frühen 19. Jarhrhundert (1813-1830). Köln 1998.

Tischler, Andreas: Die philhellenische Bewegung der 1820er Jahre in den preußischen Westprovinzen. Forchheim 1981.

(Katharina Thielen, 5.9.2022)

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