Die preußische Rheinprovinz im Deutschen Kaiserreich – Politik, Wirtschaft und Gesellschaft

Nach der Reichsgründung 1871 mit Preußen als deutscher Führungsmacht erschien das neue Kaiserreich im Bewusstsein auch vieler rheinischer Zeitgenossen als das Übergeordnete und Zukunftsweisende. Die „Entbehrlichkeit“ Preußens neben regionaler und nationaler Identität sowie der von etwa 1880 bis zum Ersten Weltkrieg andauernde wirtschaftliche Aufschwung erleichterten eine rasch zunehmende Integration der Provinz in den Gesamtstaat.

Die Reichskrone um 1900, Seidenstickerei, nach dem 2. Modell-Entwurf von Emil Doepler 1899 © LVR-Niederrheinmuseum Wesel

Der Durchbruch der Industrialisierung - gekennzeichnet von einem rasanten Wachstum der Steinkohleförderung und Montanindustrie - löste auch in der Rheinprovinz einen tiefgreifenden sozialen und wirtschaftlichen Strukturwandel aus. Zuwanderung von Arbeitskräften hauptsächlich aus Ostpreußen und Polen und Urbanisierung veränderten die Städtelandschaft in wenigen Jahrzehnten.

Erst ab etwa 1895 überholte der Sektor Industrie den der Landwirtschaft. An dem bis zum Ersten Weltkrieg andauernden konjunkturellen Aufschwung hatten auch die „jungen“ Industrien wie Elektrotechnik, Chemie und Maschinenbau gehörigen Anteil, wenngleich die Montanindustrie der bestimmende Leitsektor in der Rheinprovinz blieb. 

Nach der 1873 („Gründerkrach“) ausgelösten wirtschaftlichen Depression kam es zum preußischen Schutzzoll-Bündnis von „Junkern und Schlotbaronen“. Die staatlich geförderte Allianz von Agrariern und Schwerindustriellen implizierte die grundsätzliche Aufrechterhaltung des bestehenden politischen Systems und führte auch zur Übernahme eines genuin „preußischen“ Sozialmodells mit straff hierarchischen und patriarchalischen Zügen vornehmlich in der Ruhrindustrie. 

Die Rheinprovinz war die bevölkerungsreichste im Königreich Preußen mit dem größten Steueraufkommen – und mit einem hohen Grad an Politisierung. Die Sozialdemokratie und der politische Katholizismus waren nach der Reichsgründung auch hier jeweils einer Phase staatlicher Repressionen ausgesetzt („Sozialistengesetze“ und „Kulturkampf“). Beide gingen jedoch gestärkt daraus hervor, etablierten sich reichsweit als wesentliche politische Faktoren und verfügten gerade in der Rheinprovinz über starke Bastionen. 

Das Zentrum hielt die Spitzenstellung; es konnte sich auf mehrere große Vereinsorganisationen stützen, die die katholischen Milieus auf den verschiedenen sozialen Ebenen erfassten. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts legte die SPD kontinuierlich zu und stellte 1912 die stärkste Fraktion im Reichstag. Seit den Bergarbeiterstreiks 1889 gewannen die pragmatisch orientierten Gewerkschaften zunehmend an Einfluss gegenüber den Arbeitgebern.  Im Jahr 1913 konnten die freien Gewerkschaften mehr als 2,5 Millionen MitgliederInnen verzeichnen, die christlichen Gewerkschaften über 340.000 MitgliederInnen, wobei der Frauenanteil jeweils zwischen 8 und 9 % lag. 

Die Nationalliberalen waren die Partei des protestantischen Wirtschafts- und Bildungsbürgertums. Aufgrund des in Preußen geltenden Drei-Klassen-Wahlrechts beherrschten sie den Provinziallandtag und die kommunalen Parlamente der Rheinprovinz. Das Engagement des liberalen Bürgertums für die allgemeine Wohlfahrt prägte lange nachwirkend Bildung und Kultur, das Gesicht der Großstädte sowie die kommunale und provinziale Infrastruktur. 

Die Ausstattung mit weiteren Befugnissen der Selbstverwaltung durch die 1887 eingerichtete neue Provinzialordnung trug zur weiteren Integration in den Gesamtstaat bei. Ebenso spielten eine hoch entwickelte Bildungs-, Kultur- und Presselandschaft, Gewerbe und Kunst eine bedeutende Rolle für das Selbstverständnis und Profil der Provinz. Düsseldorf und Köln wurden zu „Messe-Städten“, große Ausstellungen zogen ein Millionenpublikum an.

Imperialismus und Nationalismus fanden auch hier Eingang vorwiegend beim Bürgertum, häufig durch die publizistische Präsenz großer reichsweiter Agitationsverbände wie Flottenverein und Alldeutscher Verband. Gerade letzterer transportierte auch völkisches und rassistisches Gedankengut, das jedoch in der Rheinprovinz noch keine virulente Bedeutung erlangte. Die in praktisch jedem Ort bestehenden Kriegervereine erfassten getrennte soziale Schichten und Milieus.

Das Leben der rheinischen Bevölkerung blieb wie im übrigen Kaiserreich geprägt von Klassenschranken und Geschlechterrollen. Industriekapitalismus, soziale Benachteiligungen und schnelllebiger Modernismus führten zu ganz unterschiedlichen Perspektiven auf Staat und Gesellschaft. Überwiegend jedoch sah man auch in der wilhelminischen Rheinprovinz der Zukunft optimistisch entgegen und bekannte sich zu „Kaiser und Reich“. Wilhelm II. versuchte, mit der von ihm neu definierten und vielseitig ausgefüllten Kaiserrolle konfessionelle und soziale Gegensätze zu überbrücken, was ihm vornehmlich bei Katholiken und Liberalen auch etliche Erfolge eintrug.  Aber auch in der Rheinprovinz bestand wie im ganzen wilhelminischen Deutschland ein letztlich nicht überwundener Zwiespalt: Der Gegensatz zwischen Modernisierung und wirtschaftlich-kulturellem Fortschritt einerseits sowie obrigkeitsstaatlicher Beharrung, traditioneller Herrschaftsauffassung und rückständiger Gesellschaftsordnung andererseits.  

Literatur: 

Christopher Clark, Preußen. Aufstieg und Niedergang. 1600-1947, München 2007

Joseph Hansen, Preußen und das Rheinland 1815-1915. Hundert Jahre politisches Leben am Rhein, Bonn 1918

Jürgen Herres und Bärbel Holtz, Rheinland und Westfalen als preußische Provinzen (1814-1888), in: Georg Mölich/ Veit Veltzke/ Bernd Walter (Hg.), Rheinland, Westfalen und Preußen. Eine Beziehungsgeschichte, Münster 2011, S. 113-208

Wilhelm Ribhegge, Preußen im Westen. Kampf um den Parlamentarismus in Rheinland und Westfalen 1789-1947, Münster 2008

Hartwin Spenkuch, Preußen – eine besondere Geschichte. Staat, Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur 1648-1947, Göttingen 2019

Veit Veltzke, Rheinland und Westfalen: „Reichslande“ im wilhelminischen Kaiserreich (1888-1918), in: Georg Mölich/ Veit Veltzke/ Bernd Walter (Hg.), Rheinland, Westfalen und Preußen. Eine Beziehungsgeschichte, Münster 2011, S. 209-287

Unterthemen: 

> Der Deutsche Flottenverein

> Kaiser Wilhelm II. und das Krupp-Imperium

> Tanzhusaren und Bergleute in Krefeld

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Wilhelm II. Deutscher Kaiser und König von Preußen, in der Parade-Uniform des Regiments der Gardes du Corps, Fritz Reusing, Düsseldorf 1905, Öl auf Malkarton, Studie zu einem repräsentativen Gemälde für das Rathaus der Stadt Mühlheim a. Rhein, links die preußische Königskrone © LVR-Niederrheinmuseum Wesel