Zwei Wahlrechte

Seit 1849 verfügte jeder Mann im Kgr. Preußen ab dem 24. Lebensjahr über eine Wahlstimme zum Preußischen Abgeordnetenhaus, sofern er sechs Monate seinen Wohnsitz in einer preußischen Gemeinde hatte, ihm die bürgerlichen Rechte nicht aberkannt waren und er keine öffentliche Armenunterstützung erhielt. Das preußische Wahlrecht teilte die Wähler nach ihrem Steueraufkommen in drei Klassen ein. In einem indirekten Verfahren gingen zunächst aus Urwahlkreisen je 3-6 Wahlmänner hervor, wobei auf die erste und dritte Wählerklasse stets die gleiche Anzahl von Wahlmännern entfiel. Das Wahlmännergremium eines jeweiligen Wahlbezirks entschied dann über den (die) Abgeordneten. Das Gewicht der Wählerstimmen war höchst ungleich, da die dritte Klasse über 80% der Wähler umfasste, die erste dagegen nur vier%. Auch geheim waren die Wahlen nicht, da jede Stimme öffentlich im Wahllokal abgegeben werden musste und das Wahlverhalten somit erheblich beeinflusst werden konnte.

Dies auch in anderen Staaten geltende Zensuswahlrecht kann als relativ fortschrittlich gelten, da es das Wahlrecht an Steuern und nicht mehr ausschließlich an Grundbesitz knüpfte. Es zementierte jedoch in Preußen ein parlamentarisches Übergewicht der liberalen (später der nationalliberalen) und konservativen Kräfte.  Noch deutlicher zeigte sich dies in den kommunalen Vertretungsorganen der Rheinprovinz, die sich ebenfalls nach dem Dreiklassenwahlrecht zusammensetzten. Die Verfassung des Norddeutschen Bundes 1867 und dann des Deutschen Reiches 1871 gewährte den preußischen Bürgern wie allen Deutschen ein zweites, seinerzeit sehr modernes Wahlrecht für das föderative bzw. nationale Parlament: allgemein, gleich, direkt und geheim, auszuüben mit dem 24. Lebensjahr.

Den Reichstag in Berlin rückte sehr bald im politischen Bewusstsein und Wahlverhalten der Zeitgenossen in den Vordergrund. Die Wahlbeteiligung bei Reichstagswahlen war wesentlich höher als bei denen zum preußischen Abgeordnetenhaus. Auch die durch das preußische Wahlrecht benachteiligten Parteien fokussierten sich stärker auf den Reichstag. Zwar sah die Reichsverfassung nur ein Persönlichkeitswahlrecht vor, und die gewählten Abgeordneten schlossen sich im Reichstag erst zu Fraktionen zusammen. Aber die Profilierung der Parteien und die Politisierung vornehmlich in den industrie- und gewerbereichen Regionen war inzwischen so weit fortgeschritten, dass die Wähler keine Zweifel an der jeweiligen Zugehörigkeit oder Affinität der Kandidaten haben konnten. 
Das Festhalten Preußens am Dreiklassenwahlrecht bis 1918 führte zu widersprüchlichen innenpolitischen Kräftelagen. Während z.B. die Sozialdemokratische Partei im Reichstag ab 1890 immer stärker wurde und dort 1912 bereits die größte Fraktion stellte, war sie im preußischen Abgeordnetenhaus erstmals 1908 mit sieben Mandaten vertreten, bei einem Stimmenanteil allerdings von fast 24%. Das Zentrum dagegen, mit starken Bastionen in der Rheinprovinz, Westfalen und Posen, stellte im selben Jahr 104 von insgesamt 443 Abgeordneten.

< Zurück zum Oberthema "Die Provinz etabliert sich - Selbstverwaltung und regionales Selbstverständnis"

Sucheingabefeld

Kolorierter Druck: Neuer Reichstag in Berlin
Neuer Reichstag in Berlin, Nordwestansicht mit Blick auf das Hauptportal, kolorierter Druck, L. Kempner & Co., Hamburg 1900 © LVR-Niederrheinmuseum Wesel

Das Gebäude, heute Sitz des Deutschen Bundestages, wurde unter Paul Wallot 1884 bis 1894 errichtet. Zuvor hatte der Deutsche Reichstag seit 1871 als „Gast“ im Preußischen Herrenhaus bzw. im Preußischen Abgeordnetenhaus getagt. Die Widmungsinschrift „Dem deutschen Volke“ im Architrav des Westportals wurde erst 1916 angebracht.