David Hansemann (*12. Juli 1790 in Finkenwerder † 4. August 1864 in Schlangenbad)

Wirtschafts- und Verfassungspolitik eines rheinischen Liberalen
 

David Justus Ludwig Hansemann wurde am 12. Juli 1790 in Finkenwerder bei Hamburg als jüngster Sohn des evangelischen Pfarrers Eberhard Ludwig Hansemann geboren. Im Zeitraum von 1805 bis 1810 absolvierte er eine Handlungslehre bei dem Unternehmern Gebrüder Schwenger in Rheda bei Minden. Anschließend war er als Kontorist und Handlungsreisender für verschiedene Tuchfabrikanten in Elberfeld und Monschau tätig, bevor er selbst in die wallonische Textilgewerberegion übersiedelte, eine Tochter des Eupener Tuchfabrikanten Johann Wilhelm Fremery (1761–1851) heiratete und 1817 die ersten Kommissionsgeschäfte in Aachen übernahm. Als protestantischer Wollkaufmann hatte er es dort in der mehrheitlich katholisch geprägten Oberschicht aus reichen Tuch- und Nadelfabrikanten zunächst nicht leicht. Von seiner amtlichen Ernennung zum Stadtrat trat er 1830 nach nur zwei Jahren und nicht vollständig zu rekonstruierenden Differenzen mit den alteingesessenen Ratsherren zurück (Bergengrün, S. 10–77).

Stattdessen befasste er sich eigenverantwortlich mit den steigenden kommunalpolitischen Problemen in der Fabrikstadt, indem er die Aachener Feuerversicherungsgesellschaft und den Verein zur Beförderung der Arbeitsamkeit ins Leben rief. Diese Verbindung des modernen Versicherungswesens und der sozialen Armenfürsorge lieferte die ersten praktischen Lösungsansätze für die aufkommende soziale Frage und wurde in zahlreichen anderen Städten zum Vorbild genommen (Thomes, S. 102). Gleichzeitig war er als Sekretär für die Aachener Handelskammer tätig. Die Kammer bestand seit der französischen Herrschaftsphase und ermöglichte es den Handel- und Gewerbetreibenden in Aachen ebenso wie in Köln ihre Interessen selbstständig zu artikulieren und über den Herrschaftswechsel hinaus zu vertreten. Gerade in den ersten Jahren der preußischen Verwaltung fungierten die Kammermitglieder als wichtige Berater und Gutachter für die Durchsetzung der preußischen Wirtschaftspolitik vor Ort. Mit der Reorganisation des französischen Kammermodells im Jahr 1835 wurden die Kammern langfristig als quasi-staatliche Interessensvertretungen sanktioniert und Hansemann zum ersten Präsidenten der Aachen Kammer gewählt. In den darauffolgenden Jahren gelang es ihm gemeinsam mit dem Präsidenten der Kölner Handelskammer Ludolf Camphausen (1803–1890) wirtschaftspolitische Innovationen durchzusetzen und gesellschaftspolitische Veränderungen anzustoßen (Huyskens, S. 74–79).

Spätestens seit Mitte der 1830er Jahre wurde nämlich der Bau einer Eisenbahn als eine „für die Stadt Cöln höchst wichtige Angelegenheit“ (HAStK 410 A3, Eintrag vom 31.5.1836) be­trachtet und mit der Gründung einer Aktiengesellschaft in Angriff genommen. Nachdem Ludolf Camphausen und der Kölner Oberbürgermeister Adolph Steinberger (1777–1866) den „eisernen Rhein“(Camphausen) von Köln nach Antwerpen ohne eine Station in Aachen ge­plant hatten, gründete Hansemann 1836 eine lokale Konkurrenzgesellschaft, die den Halt in Aachen mit allen Mitteln durchsetzen wollte. Diese in der Literatur ausführlich nachzulesenden Konflikte um die Streckenführung entsprangen der historisch gewachsenen Konkurrenz der beiden Wirtschaftsmetropolen und wurden kurz darauf beigelegt (Herres, S. 156–187). Denn das Vorhaben drohte auch nach der Vereinigung beider Eisenbahngesell­schaften, d.h. mit vereintem Kapital aus Köln, Aachen und weiteren auswärti­gen Aktieninhabern, an unzureichenden Finanzmitteln zu scheitern. 626 Aktionäre – darunter 28 Frauen – hielten im Jahr 1837 insgesamt rund drei Millionen Taler Aktienkapital. Während es „in Aachen und Köln fast zum guten Ton gehörte, dabei zu sein“ (Deeters, S. 138), spielte der sparsame preußische Staat in dem millionenschweren Prestigeprojekt eine freiwillige – wenn auch vermittelnde – Nebenrolle. Öffentliche Hilfsgesuche an den preußischen König aus der Feder von Camphausen, Hansemann und anderen Kaufleuten blieben ungehört, obwohl sie den Nutzen einer „nationalen Eisenbahn“ (Hansemann 1843, S. 25) für finanzielle und politische Zwecke Preußens bzw. „Deutschlands“ (Camphausen, S. 100) auffällig stark herausstellten (Brophy, S. 22–52).

In der Konsequenz setzte Hansemann seine privaten Geschäfts- und Familienkon­takte ein und erhielt einen Zuschuss in Höhe von einer Millionen Taler von der noch jun­gen belgischen Regierung, die ihrerseits ein großes Eigeninteresse an dem Aufbau wirtschaftspolitischer Beziehungen hatte. Zusätzlich barg die Beteiligung Belgi­ens praktische Vorteile, weil belgische Maschinenbauer mit guten Kontakten nach Aachen, wie John Cockerill (1790–1840) in Lüttich, die ersten Lokomotiven lieferten. Unter den Namen „Rhein“ und „Wupper“ wurden diese erstmals in Düssel­dorf – nicht in Köln oder Aachen – eingesetzt und am Geburtstag des Kronprinzen im Jahr 1838 der Öf­fentlichkeit präsentiert (Henkel, S. 120–124). Fünf Jahre später, am 15. Oktober 1843, folgte die feierliche Eröffnung der linksrheinischen Eisenbahnstrecke von Köln über Aachen bis an die belgische Grenze. Friedrich Wilhelm IV. hatte die Einladungen zu diesen historischen Ereignissen der deutschen Geschichte an seinen Ehrentagen ausgeschlagen und einen Integrationsmoment verstreichen lassen, der in den Augen Hansemanns und anderer Vertreter des rheinischen Liberalismus die Zukunft des Staatswesens beeinflusste (Boch, Abhandlungen, S. 115–123).


Diese Zukunftsvisionen lassen sich in seinen Denkschriften nachvollziehen und wurden von der älteren geschichtswissenschaftlichen Forschung übertrieben nationalistisch aufgeladen. Denn vor allem seine anonyme Denkschrift „Preußen und Frankreich. Staatswirthschaftlich und politisch unter besonderer Berücksichtigung der Rheinprovinz“ (Hansemann 1834) aus dem Jahr 1833 rief bei ihrem Adressaten, bei König Friedrich Wilhelm III., nicht die Begeisterung her­vor, die ihr so mancher Historiker entgegenbrachte (z. B. Poll). Im Gegenteil – in der aufsehenerregenden Schrift kritisierte er die preußische Steuerpolitik und konnte die Grundsteuerüberlastung der Westprovinzen erstmals mit Zahlen und Fakten belegen. Vorangegangen waren ihr eine Reihe von Wortbeiträgen in der Presse, allen voran in der Stadt-Aachener Zeitung, und in wirtschaftlichen Fachzeitschriften sowie eine nachträglich als frühliberales Parteiprogramm gerühmte Schrift „Über Preußens Lage und Politik am Ende des Jahres 1830“ (Hansemann 1845), deren „löbliche Absicht“ (Hansen, S. 87f.) der König zwar anerkannte und nicht weiter beachtete (Bergengrün, S. 260–275; Diefendorf, S. 342–347).

Inhaltlich zielten Hansemanns wortgewandten Angriffe auf das preußische Herrscherhaus auf eine Modernisierung der Wirtschaft, eine Verbesserung der sozialen Lage der Bevölkerung sowie den Erlass einer konstitutionellen Verfassung ab. In der Rückschau können sie entweder als Angriff auf das preußische Staatswesen oder aber als Ausdruck einer neuen Staatsloyalität gelesen werden, die die politischen Strukturen Preußens in einen europäischen Kontext stellten und nach dem Vorbild Frankreichs verbessern sollten. Vor diesem Hintergrund hatten sowohl der König als auch die Historiker die europäische Perspektive des Aachener Großhändlers gehörig missverstanden, zumal er in Hamburg geboren, in Belgien verwurzelt und für das Rheinland politisch aktiv war (Diefendorf, S. 350). Die Folge seiner publizistischen Aktivitäten war ein enormes Medienecho und die Konfiskation der Schriften durch das Innenministerium, das dem Autor fortan jene Aufmerksamkeit schenkte, die ihm zu seinen späteren Spitzenämtern verhelfen sollte: Im Jahr 1845 zog er für die Stadt Aachen in den rheinischen Provinziallandtag, 1846 in den ersten nach preußischen Gesetzen gewählten Gemeinderat und 1847 schließlich in den Vereinigten Landtag ein. Kurz darauf erhielt Hansemann im Märzministerium den wichtigen Posten des Finanzministers an der Seite von Camphausen und somit jene politische Anerkennung die ihm zuvor noch versagt worden war. Gemeinsam führten sie Preußen in die Verfassungswirklichkeit und trugen mit „Good will and a spirit of cooperation on all sides“ (Diefendorf, S. 356) langfristig zur Modernisierung des Rheinlandes und des preußischen Staates bei (Soénius; Henning; Boch, Hansemann).

Dass dies auch nach dem Scheitern der Revolution keineswegs in Vergessenheit geriet, zeigt das Reiterstandbild auf dem Kölner Heumarkt, das 1878 enthüllt wurde und die beiden rheinischen Liberalen neben Personen wie Hardenberg und Stein sprichwörtlich wie faktisch als Teil des Fundaments der preußischen Herrschaft im Rheinland darstellt.

(Katharina Thielen, 4.11.2022)

Quellen

Historisches Archiv der Stadt Köln (HAStK) Bestand 410 A3, Protokolle des Stadtrats, Eintrag vom 31.5.1836.

gedruckte Quellen

Camphausen, Ludolf: Zur Eisenbahn von Köln nach Antwerpen. Köln 1833.

Hansemann, David: Denkschrift über das Verhältniß des Staats zur Rheinischen Eisenbahn-Gesellschaft. Berlin 1843. Ediert und kommentiert nach der Handschrift von James M. Brophy, in: Herres, Jürgen/Mölich, Georg/Wunsch, Stefan (Hg.): Quellen zur Geschichte der Stadt Köln, Bd. 3: Das 19. Jahrhundert (1794-1914), Köln 2010, S. 128-148.

Ders.: Preußen und Frankreich staatswirthschaftlich und politisch unter vorzüglicher Berücksichtigung der Rheinprovinz. Leipzig 2. Aufl. 1834.

Ders.: Über Preußens Lage und Politik am Ende des Jahres 1830. Aachen 1845.

Literatur

Boch, Rudolf: David Hansemann: Das Kind der Industrie, in: Freitag, Sabine (Hg.): Die Achtundvierziger. Lebensbilder aus der deutschen Revolution 1848/49, München 1998, S. 171-186.

Boch, Rudolf: Arbeiter – Wirtschaftsbürger – Staat. Abhandlungen zur Industriellen Welt herausgegeben von Frank-Lothar Kroll. Berlin/Boston 2017.

Brophy, James M.: Capitalism, Politics, and Railroads in Prussia 1830–1870. Columbus 1998.

Bergengrün, Alexander: David Hansemann. Berlin 1901.

Deeters, Joachim: Die Aktionäre der Rheinischen Eisenbahn-Gesellschaft im Grün¬dungsjahr 1837, in: Rhein.-Westfäl. Wirtschaftsarchiv zu Köln e.V. (Hg.): Kölner Unternehmer und die Frühindustrialisierung im Rheinland und in Westfalen (1835– 1871). Aus. Kat. Köln 1984, S. 116–146.

Diefendorf, Jeffry M.: Businessmen and Politics in the Rhineland 1789-1834. Princeton 1980.

Hansen, Joseph: Rheinische Briefe und Akten zur Geschichte der politischen Bewegung 1830–1850, Bd. 1 , 1919, ND Osnabrück 1967.

Henning, Friedrich-Wilhelm: Aspekte preußischer Wirtschaftspolitik im Rheinland während des 19. und frühen 20. Jahrhunderts, in: Mölich, Georg/Pohl, Meinhard/Veltzke, Veit (Hg.): Preußens schwieriger Westen. Rheinisch-preußische Beziehungen, Konflikte und Wechselwirkungen. Duisburg 2003, S. 351–373.

Henkel, Peter: 1838 – Als der erste Eisenbahnzug anrollte. 175 Jahre älteste Eisenbahnstrecke Westdeutschlands zwischen Düsseldorf und Elberfeld - ein Beitrag zu ihrer Vorgeschichte, in: Düsseldorfer Jahrbuch 83 (2013), S. 97–128.

Herres, Jürgen: Köln in preußischer Zeit 1815–1871. Köln 2012 (Geschichte der Stadt Köln 9).

Huyskens, Albert: 125 Jahre Industrie- und Handelskammer zu Aachen. Festschrift zur Feier ihres 125jährigen Bestehens im Auftrage der Industrie- und Handelskammer. Aachen 1929.

Poll, Bernhard: David Hansemann 1790, 1864, 1964. Zur Erinnerung an einen Politiker und Unternehmer. Aachen 1964.

Soénius, Ulrich S.: Unternehmer und Liberale. Rheinisches Wirtschaftsbürgertum im frühen 19. Jahrhundert, in: Jahrbuch zur Liberalismus-Forschung 30 (2018), S. 53–68.

Thomes, Paul: Entrepreneur und Corporate Citizen – zum 150. Todestag von David Hansemann (1790–1864), in: Ders. (Hg.): Unternehmer in der Region Aachen – zwischen Maas und Rhein. Münster 2015, S. 96–111.

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