Politische Entwicklungen im Vormärz

Rheinpreußen um 1830 war die bevölkerungsreichste, gewerblich-industriell am weitesten entwickelte und wohlhabendste aller preußischen Provinzen, aus Berliner Sicht aber auch die „schwierigste“. Hier standen katholische Milieus und liberales Bürgertum in einem kritischen, wenn nicht ablehnenden Verhältnis zu Preußen. Nach der Julirevolution 1830 in Paris und dem bald darauf folgenden Aufstand, der zur belgischen Unabhängigkeit führte, fürchtete man in Berlin verstärkt ein Überschwappen revolutionärer Strömungen in die Rheinprovinz. 

Das Sonder- und Selbstbewusstsein der Rheinprovinz war zunächst vornehmlich in der Auseinandersetzung um die Beibehaltung der Französischen Rechts- und Gerichtsordnung zum Ausdruck gekommen. Der König hatte den Rheinländern immerhin ihr eigenes „rheinisches“ Recht zugestanden, zumindest bis auf Weiteres. Auch hinsichtlich ihrer Kommunalordnung beharrten die Rheinländer auf Fortgeltung der französischen Munizipalverfassung. Der nicht enden wollende Streit wurde erst 1845 durch eine neue Gemeindeordnung für die Rheinprovinz vorläufig beigelegt.

Obwohl ihm mit Beratungs- und Petitionsrecht nur eingeschränkte Befugnisse übertragen waren, entwickelte sich im preußischen Vormärz gerade der Rheinische Provinziallandtag zu einem politischen Forum, das auch gesamtstaatliche Fragen aufgriff. Nach der Thronbesteigung König Friedrich Wilhelms IV. 1840 wurden die Forderungen nach Pressefreiheit, Verfassung und Gesamtparlament immer lauter, flankiert von sozialpolitischen Postulaten wie etwa einer Gleichberechtigung der jüdischen Minderheit. Getragen wurden diese Forderungen von einem selbstbewussten, wohlhabenden und liberalen Bürgertum, das in seinen Vorstellungen von Wirtschaft und Gesellschaft eher nach Frankreich und England orientiert war. 

Die rheinischen Liberalen profilierten sich im preußischen Vormärz neben den ostpreußischen als stärkte Opposition. Sie sahen wirtschaftlich-industriellen Fortschritt und konstitutionelle Freiheiten als einander notwendig bedingend an. Sie wollten mehrheitlich durchaus in Preußen verbleiben. In einem Preußen freilich, das zeitgemäßer, moderner, insgesamt „westlicher“ gestaltet war. Als Sprecher des Rheinischen Liberalismus traten Unternehmer und Bankiers wie Ludolf Camphausen, David Hansemann, Gustav Mevissen und Hermann von Beckerath hervor. Um die großbürgerliche Wirtschaftselite sammelten sich breite Kreise von Kaufleuten, Freiberuflern und Handwerkern. Die Verfassungsdebatten des Provinziallandtages 1845 wurden von großen Petitionskampagnen der rheinischen Städte angestoßen und unterstützt. 

Neben der konstitutionellen war die soziale Frage immer stärker in den Vordergrund gerückt. Die prekäre Lage der Fabrikarbeiter und ihrer Familien ließen in den frühen 1840er Jahren den Ausdruck „Pauperismus“ (Massenverelendung) zu einem politischen Begriff werden. 

Neben die liberale und konfessionelle Opposition trat in der Rheinprovinz nun eine weitaus radikalere. Auch die frühen Sozialisten, die sich bald Kommunisten nannten, waren eine Antwort aus dem preußischen Westen auf die soziale Frage. Karl Marx (1818-1883), der Sohn eines vom jüdischen zum protestantischen Glauben konvertierten Rechtsanwalts aus Trier und Schwager des preußischen Innenministers von Westphalen, sowie Friedrich Engels (1820-1895), Sohn eines Textilfabrikanten aus Barmen, waren ebenso Rheinpreußen wie der in Bonn geborene Journalist Moses Hess (1812-1875). 

Die Aktivitäten und Schriften der Frühsozialisten trugen tendenziell zur Politisierung in der Rheinprovinz bei. Hier bestand die dichteste deutsche Zeitungslandschaft, und die zunehmende Alphabetisierung erlaubte auch immer mehr Angehörigen der unterbürgerlichen Schichten nun eine Teilnahme an der Öffentlichkeit. Neben die Zeitungen traten eine Fülle neuer Medien der politischen Diskussion, Satire und Propaganda: Volkskalender, Flugblätter, Wandanschläge, Karikaturen. 

Mit Pressezensur und Polizeimaßnahmen ließ sich die Politisierung der Öffentlichkeit nicht mehr eindämmen. Missernten, Teuerung und Hungerkrisen sorgten zwischen 1845 und 1847 für eine weitere Verschärfung der sozialen Situation. Darüber hinaus erhitzten alte Ressentiments zwischen preußischem Militär und ziviler Öffentlichkeit sowie  verfehlte Disziplinierungsmaßnahmen der Staatsmacht zusätzlich das politische Klima in der Rheinprovinz. So führte ein unverhältnismäßig massiver Militäreinsatz anlässlich von Unruhen bei der Kölner Martinskirmes im August 1846 zu umfangreichen Protestaktionen der gesamten Bürgerschaft. Das Ereignis fand erhebliche mediale Resonanz über die Rheinprovinz und Preußen hinaus und verstärkte den Eindruck von einer „vorrevolutionären“ Situation.

Vor diesen Hintergrund berief Friedrich Wilhelm IV. wegen einer staatlichen Finanzkrise am 3. Februar 1847 den ersten Vereinigten Landtag nach Berlin ein. Da der König die konstitutionellen Forderungen der liberalen Opposition strikt zurückwies, bewilligte der Vereinigte Landtag unter Wortführerschaft der rheinischen Liberalen nicht die von der Krone beantragte Staatsanleihe und wurde am 26. Juni 1847 geschlossen. Am Vorabend der Revolution in Preußen berief Friedrich Wilhelm IV. den Vereinigten Landtag erneut ein und verlieh ihm eine vierjährige Tagungsdauer. Diese Maßnahme jedoch konnte angesichts der sich bald überstürzenden Ereignisse keine entspannende Wirkung mehr entfalten.

Unterthemen: 

> Der „Centralverein für das Wohl der arbeitenden Klassen“

> Medien und Politisierung

Weiterführende Informationen: 

1815 bis 1848 - Vom Wiener Kongress zur Revolution von James M. Brophy auf dem Internetportal Rheinische Geschichte

Die Städteordnung für die Rheinprovinz von 1856 von Lothar Weiß auf dem Internetportal Rheinische Geschichte

Literatur

Christopher Clark, Preußen. Aufstieg und Niedergang 1600-1947, München 2007, hier: S. 500-535

Jürgen Herres und Bärbel Holtz, Rheinland und Westfalen als preußische Provinzen (1814-1888), in: Georg Mölich/ Veit Veltzke/ Bernd Walter (Hg.), Rheinland, Westfalen und Preußen. Eine Beziehungsgeschichte, Münster 2011, S. 113-208, hier S. 145-151, 157-164 und 195-199

Reinhard Koselleck, Preußen zwischen Reform und Revolution, Stuttgart 1975

Wilhelm Ribhegge, Preußen im Westen. Kampf um den Parlamentarismus in Rheinland und Westfalen 1789-1947, Münster 2008

Rüdiger Schütz, Preußen und die Rheinlande. Studien zur preußischen Integrationspolitik im Vormärz, Wiesbaden 1979

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Valentin Schertle, Ludolf Camphausen, Frankfurt a. M. 1848/49, Lithographie nach einem Lichtbild von Biow © LVR-Niederrheinmuseum Wesel
Eduard Meyer, Hermann von Beckerath, Berlin 1848, Lithographie © LVR-Niederrheinmuseum Wesel