Reisen

Das 19. Jahrhundert gilt gemeinhin als Geburtsstunde des modernen Massentourismus. Zuvor war das Reisen bestimmten Gruppen vorbehalten und zumeist an spezifische Zwecke gebunden. So richtete sich der Mobilitätsradius von Kaufmännern und -frauen nach historisch gewachsenen Wirtschaftsbeziehungen und den sich ausweitenden Handelswegen. Religiöse Überzeugungen brachten hunderttausende Menschen zu den Wallfahrtsstätten und Pilgerorten des europäischen Kontinents. Sie trafen dabei auf Vagabunden, Schaustellerfamilien, Räuber, Bettler und andere Personen, die ohnehin ständig unterwegs waren. Demgegenüber wurden Wanderjahre von Handwerksgesellen und Studienfahrten wie zum Beispiel die Kavalierstour des Adels als zeitlich begrenzte und überaus wichtige Lebenserfahrung junger Menschen verstanden. Erholungs-, Bade-, Bildungs- und Vergnügungsreisen hatten ihren Ursprung in der Antike und wurden im Laufe des 18. Jahrhundert als Teil der Adelskultur von bürgerlichen Familien übernommen. Dass diese Entwicklung im Rheinland besonders früh einsetzte und sich das Reisen in der Alltagskultur etablieren konnte hatte mehrere Gründe.
Erstens begründete die territoriale Lage und die wechselhafte Zugehörigkeit der (Grenz-)Regionen an Rhein, Mosel und Maas wechselseitige, interkulturelle Beziehungen zu den französischen, belgischen, holländischen und luxemburgischen Nachbargebieten, die seit der französischen Herrschaftsphase durch neue Straßen erreicht werden konnten. Nach der Neuordnung Europas im Zuge des Wiener Kongresses setzten sich gedachte und real befestigte Territorialgrenzen mitsamt den dazugehörigen Grenzsteinen und -kontrollen erst allmählich - allen voran in der Cholerakrise zu Beginn der 1830er Jahre - durch.
Zweitens bildete der Rhein als einer der wichtigsten Verkehrs- und Handelsverbindungen Europas die Grundlage dafür, dass sich die Rheinschifffahrt zu einer der beliebtesten und komfortabelsten Formen des Reisens entwickelte. Dabei wurde die Rheinreise durch prominente Schriftstellerinnen und Schriftsteller dokumentiert, romantisiert und popularisiert.
Drittens ging die Popularisierung des Reisens im Zuge der Rheinromantik mit einer Vereinfachung der Transportformen durch technischen Innovationen und infrastrukturellen Neuerungen einher. Seit 1825 konnte die Kölnische Dampfschifffahrtsgesellschaft die Rheinreise durch die Einführung von Dampfschiffen nach dem Vorbild Großbritanniens und in Kooperation mit den niederländischen Nachbargebieten revolutionieren. Am 14. September 1825 gelangte der preußische König in nur fünf Stunden rheinaufwärts von Köln nach Koblenz. Bereits drei Jahre später nutzten rund 20.000 Personen im Jahr die neue Mobilitätsform um beispielsweise den Kölner Karneval zu besuchen. Ein Jahrzehnt wurde die Erfahrung von Zeit und Raum auf eine neue Ebene befördert und die erste Eisenbahnstrecke von der Düsseldorf-Elberfelder-Eisenbahngesellschaft eröffnet. Fünf Jahre später folgte die linksrheinische Strecke von Köln über Aachen bis an die belgische Grenze und somit erstmals die ständige Verbindung ins „Ausland“.
Katharina Thielen (23.6.2022).
Literatur:
Bock, Benedikt: Baedeker & Cook. Tourismus am Mittelrhein 1756 bis ca. 1914. Frankfurt a. M. u.a. 2010.
Gyr, Ueli: Geschichte des Tourismus: Strukturen auf dem Weg zur Moderne, in: Europäische Geschichte Online (EGO), hg. vom Institut für Europäische Geschichte (IEG), Mainz 2010-12-03. URL: http://www.ieg-ego.eu/gyru-2010-de URN: urn:nbn:de:0159-20100921237 (abgerufen am 07.06.2022).
Looz-Corswarem, Clemens von: Schifffahrt und Handel auf dem Rhein vom Mittelalter bis ins 19. Jahrhundert. Beiträge zur Verkehrsgeschichte. Mit digitalem Ver-zeichnis der Akten der Handelskammer Köln im RWWA zur Schifffahrt und zum Stapelrecht, 1795 bis 1830. Wien/Köln/Weimar 2020 (Schriften zur rheinisch-westfälischen Wirtschaftsgeschichte 48).
Rhein.-Westfäl. Wirtschaftsarchiv zu Köln e.V. (Hg.): Kölner Unternehmer und die Frühindustrialisierung im Rheinland und in Westfalen (1835- 1871). Aus. Kat. Köln 1984.
Spuren in der Alltagskultur: Reisende Frauen im Rheinland
Spuren in der Landschaft: Rheinische Eisenbahn

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