Reisende Frauen im Rheinland

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Von Außen macht das sogenannte Ladysbook im LVR-Nierderrheinmuseum Wesel einen eher unscheinbaren Eindruck (Foto: Daniela Hellmann, LVR-Niederrheinmuseum Wesel).

Reisende Frauen gehörten bis ins 20. Jahrhundert hinein zu den eher seltenen Begleiterscheinungen des sich entfaltenden Tourismus. Obwohl die Idee des „reisenden Frauenzimmers“ (Pelz) aus erzieherischen Gründen im Rahmen der Aufklärung verbreitet und vereinzelt realisiert wurde, bildeten Damen, die ohne männliche Begleitung unterwegs waren, eher die Ausnahme als die Regel. Die Unwägbarkeiten und Gefahren, die mit dem Reisen verbunden waren, standen der Mobilität von Frauen ebenso entgegen wie die ihnen zugeordneten alltäglichen Aufgaben im Haus. Kutschen, die sie von der Außenwelt abschirmten und eine häusliche Umgebung suggerierten, stellten daher bevorzugte Transportmittel dar, die der Idee einer Bildungs- oder Vergnügungsreise jedoch von vorneherein entgegenstanden. Erst mit der Ausbreitung der Dampfschifffahrt und dem Bau des Eisenbahnnetzes wurde das Reisen im Laufe des 19. Jahrhundert komfortabler. Um diese neuen Mobilitätsformen nutzen zu können, mussten Frauen über ausreichenden Selbstständigkeit, genügend Zeit und die notwendigen finanziellen Mittel verfügen. Analog zu den meisten ihrer männlichen Mitreisenden gehörten sie daher zumeist den oberen sozialen Schichten an. Einige von ihnen schrieben ihre Eindrücke auf und trugen so zur Ausbreitung der Reiseliteratur bei. Unter ihnen befanden sich bekannte Schriftstellerinnen aus dem Westen ebenso wie aus dem Osten der deutschssprachigen Gebiete wie Annette von Droste-Hülshoff (1797–1848) oder Sophie von La Roche (1730–1807) und Dorothea Schlegel (1764–1839) oder Johanna Schopenhauer (1766–1838). Daneben lassen sich zahlreiche englische Reiseschriftstellerinnen aufspüren, die sich im Rheinland aufhielten und sich für die aufkommende Rheinromantik begeisterten. In ihrer Heimat standen ihnen dazu ab der Mitte des 19. Jahrhunderts nicht nur die populären Reiseführer von John Murray sondern auch die von Thomas Cook organisierten Gesellschaftsreisen zur Verfügung.

Unter den ersten Engländerinnen, die das preußische Rheinland und die angrenzenden Gebiete auf eigene Faust erkundeten und ihre abenteuerliche Reise festhielten, befanden sich Lady Elizabeth Dyer (ca. 1780–1864) und eine ihr vertraute Gesellschaftsdame, bei der es sich vermutlich um die Urheberin des gemeinsamen Reisetagebuchs namens Mrs. Hearn handelte.  Das „Journal kept during a tour along the banks of the Rhine coming from Coblentz” aus dem Jahr 1826 befindet sich heute im LVR-Niederrheinmuseum Wesel und stellt eine herausragende Quelle für Frauenreisen im frühen 19. Jahrhundert dar. Denn entgegen aller Vorbehalte gegenüber reisenden Frauen im Allgemeinen und den unter den Zeitgenossen bereits verbreiteten Klischees über ungestüme Engländerinnen im Speziellen, zeugt das Buch von einer abwechslungsreichen, erstaunlich selbstständigen Reise zu Wasser, Wagen und zu Fuß von Koblenz über Frankfurt und Straßburg nach Paris. Dabei werden ihre Eindrücke, Gespräche und Erlebnisse „mit abgewogenen Urteilen, kritischem Geist und dem Blick für Mehrdeutigkeiten“ (Veltzke, S. 79) widergegeben.

Ihre Reiseaufzeichnungen beginnen mit Eindrücken aus dem Verwaltungszentrum der preußischen Rheinprovinz. In „Coblence or as it is sometimes called Coblentz or Koblenz“ verkehrten sie in den höchsten Gesellschaftskreisen und wurden von den höchsten Vertretern des preußischen Staates vor Ort, von Oberpräsident Karl Friedrich von Ingersleben und General Ludwig von Borstell persönlich empfangen. Die „Gentlemen“ und die Stadt hinterließen einen guten Eindruck bei ihren Gästen, wenngleich Koblenz eher „for ist military appearance than for ist commercial prosperity“ bekannt war. In Verbindung mit der lokalen Wirtschaft und dem Militär verglichen Lady Dyer und Mrs. Hearn den Verwaltungsaufbau und das Justizwesen sowie die örtlichen Gewohnheiten und Kleidungsstile mit den ihnen bekannten Verhältnissen in Großbritannien. Sie diskutierten sowohl über die fehlende staatliche Verteranenfürsorge in Preußen als auch über die ihnen unbekannten  Kopfbedeckungen zur Unterscheidung unverheirateter und verheirateter Frauen. In „every shop“ stießen sie auf die lebendige Erinnerungskultur an Napoleon, d.h. „little figures of him […] together with those of his adversary Veteran Blücher.“ Sie wunderten sich über ein amerikanisches Gesellschaftsspiel namens „Boston“, das gerade in den exklusiven Gesellschaften und Vereinen „en vogue“ war und darüber, dass sich die Männer zu Neujahr auf dem Ball in der städtischen „assembly hall“ küssten: „It was a very amusing sight to see officers in uniform with large mustachios embracing each other like women, but this is nothing uncommon in this country.“ Reflexionen wie diese zeugen von der Alltagskultur im Rheinland und von (nations- und geschlechtspezifischen) Selbstwahrnehmungen und Fremdzuschreibungen, die auch in der aufkommenden Reiseliteratur zu finden sind. Im Fall des sogenannten Ladys Book werden sie mit ausführliche Schilderungen über die Stadtgeschichte, das gesellige Leben und die Lebensverhältnisse der Menschen sowie Abbildungen und Erinnerungsstücke ergänzt. Neben aufwendigen Zeichnungen von der Landschaft und den vorhandenen Denkmälern finden sich zahlreiche Kuriositäten zwischen den Buchseiten wie eine Lithografie der erwähnten „head dress of the young unmarried women“, ein briefmarkengroßes Napoleonbild, das versteckt „under a button or cross“ auf der Brust getragen wurde oder die Visitenkarte des „Comte de Renesse-Breidbach“, dessen Kunstsammlung sie besichtigen konnten.

Anschließend gelangten sie mit dem Schiff nach Oberwesel und Bacherach, woraufhin sie ihre Reise zu Fuß fortsetzten. Die beschwerliche Wanderung durch das Mittelrheintal stand in Kontrast zu den Erfahrungen in der Koblenzer Oberschicht und erscheint auf den ersten Blick ungewöhnlich. Bei näherer Betrachtung entsprach diese Form des Reisens aber den Ideen der Aufklärung und einer romantischen Verklärung der Natur. Sie gab Anlass zu Weinverköstigungen und kritischen Reflexionen über die zahlreichen Sagen und Geschichten, die ihnen bei der Besichtigung von Burgen und Dörfern zu Ohren kamen und ebenfalls im Reisetagebuch widergegeben und übersetzt wurden. Auf diese Art und Weise spiegeln bereits die ersten, durch den preußischen Teil des Rheinlandes führenden Stationen ihrer Reise die weitreichenden Erfahrungen wider, die Frauen in der Fremde machten und die jenen ihrer männlichen Mitreisenden in nichts nachstanden.

Literatur

Bab, Bettina/Pitzen, Marianne (Hg.), Romantik, Reisen und Realitäten. Frauenleben am Rhein. Aust.-Kat. FrauenMuseum Bonn 1. September bis 31. Dezember 2002. Bonn 2002.

Paul, Janina Christine, Reiseschriftsellerinnen zwischen Orient und Okzident. Analyse ausgewählter Reiseberichte des 19. Jahrhunderts. Weibliche Rollenvorstellungen, Selbstrepräsentationen und Erfahrungen der Fremde. Würzburg 2013.

Pelz, Annegret, Ob und wie Frauenzimmer reisen sollen? - Das reisende Frauenzimmer als Entdeckung des 18. Jahrhunderts (Bibliotheksgesellschaft Oldenburg. Vorträge, Reden, Berichte 9) Oldenburg, 1993.

Veltzke, Veit: Von der Freiheit des Unterwegsseins. Zwei Damen von den britischen Inselns und ihre abenteuerliche Rheinreise im Jahr 1826, in: Schleper, Thomas (Hg.), Kultur unterwegs: Relevanz einer Instanz. Reisebilder, Dingwelten, Perspektiven. Heidelberg 2021, S. 71–81.

Mehr zum Thema

Krümmel, Achim, Sophie von la Roche, in: Internetportal Rheinische Geschichte, abgerufen unter: https://www.rheinische-geschichte.lvr.de/Persoenlichkeiten/sophie-von-la-roche/DE-2086/lido/57c93d8b51a396.06765130 (abgerufen am 16.06.2022).

 


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Lithografien, Zeichnungen und Souvenirs veranschaulichen die Reise (Foto: Daniela Hellmann, LVR-Niederrheinmuseum Wesel).
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