Lieder der Revolution im Rheinland

In den Revolutionsjahren 1848/49 wurden politische Ideen mit Liedern verbreitet. Durch das gemeinsame Singen konnten kollektive Interessen und Zugehörigkeiten zum Ausdruck gebracht werden. Nicht selten wurden in den Texten revolutionäre Ereignisse kommentiert, kritisiert, weitertradiert und interpretiert. Oft waren Lieder leicht verständlich und leicht zu merken, sodass weite Bevölkerungsteile politische Ideen in Revolutionsliedern kennenlernten, die politische Texte nicht lesen konnten oder keinen Zugang zu ihnen hatten.
Gesungen wurde auf Vereins- und Festveranstaltungen, auf Bürgerversammlungen und Festen im öffentlichen und privaten Raum. Schriftsteller und Schriftstellerinnen bemühten sich der hohen Nachfrage an Liedern durch neu aufkommende Gesangvereine und Bürgerwehrkapellen nachzukommen. Beeinflusst wurden viele Lieder von berühmten Komponisten wie Robert Schumann in Bonn oder Jaques Offenbach in Köln. Künstlerische Einflüsse aus der Romantik und eine patriotische Stimmung standen im Vordergrund. Dabei konnten unterschiedliche Texte mit der gleichen Melodie gesungen werden; im Rheinland war die Marseillaise aus dem benachbarten Frankreich beliebt, weil viele sie aus der französischen Zeit zwischen 1794 und 1815 noch kannten und sie bereits vor der Revolution als Protestgesang eingesetzt wurde.
Liedtexte wurden mündlich und schriftlich weitergegeben und Kolpoteure auf den Straßen, Vereine und Zeitungsredakteure halfen bei der Bekanntmachung. Ein regionales Beispiel für die persönliche Weitergabe hat sich bis heute in Köln erhalten und wurde von Ad. Brünker an seinen Freund Carl Koch verfasst.

Das Kölner Adressbuch aus dem Jahr 1849 legt die Vermutung nahe, dass es sich bei dem Verfasser um den Dampfschiffsbeamten Adolph Brüncker handelte. Dass über ihn und seinen Freund Carl Koch wenig bekannt ist, deutet auf die weite Verbreitung der revolutionären Lieder und Gedichte auch in den mittleren und unteren Bevölkerungsschichten hin.
In dem „Lied – das wir so oft gesungen“ trat der Verfasser „Für Freiheit – und das heil‘ge Menschenrecht“ ein und begründeten diese Forderung nach Grundrechten mit „Gott, der unsere Fahne trägt“. Diese Verbindung zwischen Revolution und Religion bzw. religiösen Ausdrucksformen entsprach dem zeitgenössischen Denken und den üblichen Sprachgewohnheiten. Bereits vor der Revolution, in Zeiten der Zensur und der staatlichen Sicherheitspolitik, konnten kritische Meinungen durch religiöse Rituale öffentlich geäußert und allgemeinverständlich verbreitet werden. In Köln wurde 1845 eine Beerdigungszeremonie für einen durch das Militär getöteten Fassbindergesellen zum Beispiel von tausenden Menschen besucht und als öffentliche Großveranstaltung inszeniert. Hier und in anderen Städten glichen solche Beerdigungszeremonien politischen Protestveranstaltungen gegen die Gewalt des Militärs und die fehlende Rechtssicherheit im Staat. In der Revolution nahm man bekanntlich die Trauerzeremonien für die sogenannten „Märzgefallenen“, d.h. für die in Berlin bei den Barrikadenkämpfen im März 1848 verstorbenen Personen, zum Anlass, um auf die Straßen zu gehen und Solidarität zu zeigen. Brüncker hatte den Liedtext am Allerseelentag 1848 „aus Zuneigung abgeschrieben“ und diesen religiösen Aspekt aufgegriffen. Der katholische Feiertag erinnert an die Verstorbenen und spiegelt sich im emotionalen Textinhalt wider. Mit religiös-patriotischen Metaphern wird das „Bürgerblut“ der Märzgefallenen und der Tod der Abgeordneten Hans von Auerswald und Felix Fürst von Lichnowsky thematisiert. Beide waren zwei Monate zuvor bei Straßenschlachten in Frankfurt am Main gewaltsam ums Leben gekommen. Eine Woche nach der Abschrift dieses Briefes sollte der preußische König u.a. wegen der ansteigenden Ausschreitungen in den großen Städten die preußische Nationalversammlung von Berlin nach Brandenburg verlegen und eine neue Welle der Entrüstung im Rheinland und in anderen Regionen auslösen. Das Scheitern der Revolution kündigte sich also im Liedtext an.


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Am Allerseelen Tage des Jahres 1848
Am Allerseelentag – da hebt sich der Hügel,
der grünend das Gebein der Lieben deckt,
Im Traum der Liebe – auf der Andacht Flügel
Erhebt er sich – der Glaube ist erweckt.
In jedem Flüstern lispeln Geisterstimmen,
In jedem Luftstrahl nahm sie heran
Wem aus der Glut der Liebe will erglimmen
Des Jenseits Fackel – auf der irdschen Bahn
Da wird der Friedhof zur belebten Stätte –
Dort fleht die Braut in heißerm Thränenstrom
Und bauet sich auf das Verblühnen Bette
Auf diesen Hügel – einen Himmeldoms!
Das Rauschen falben Laubwerks wird zum Leben
In jeder Pappel lebt Unsterblichkeit,
Und sehend sucht das Herz sich zu erheben
Zu einer Allmacht der Unsterblichkeit.
Am Allerseelentag – welch heil’ger Abend
Erfüllte einst die zarte Jünglingsbrust
Als der Erinnerung des Scheidens Trauerfahnen
Umflorten leicht die golden Jugendlust
Von hoher Ahnung fühl ich mich durchdrungen
Schweift zu den Gräbern heut der ernste Blick
Dort, wo sie schlummern, die uns kühn errungen
Der goldnen Freiheit längst ersehntes Glück.
O wie sank nicht der Glaube, das Vertrauen“
Nur Habsucht schürrt den Herrd der Tyrannei,
bis Nemesis dies Fundament zerhaun
und zu dem Volke sprach: nun bist du frei!
So gings mit dir du Wiege meiner Jugend,
schon damals warst du dem Verderben nah –
schon damals sank der Glaube – deine Tugend
So gings mit dir o mein Germania!
Und heut wie vormals eilen wir zum Grabe,
wo das Gebein der Erde ist geruht
Die auch für viele birgt die letzte Habe
Die unvergeßlich sich uns dahin reißt!

 


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Doch anders will der Ort sich nun gestalten –
Es steigen Helden auf mit Siegeslust,
Mit starrem Blick – die Stirne breit gespalten
Die Kugel mitten in der blutgen Brust.
Sind’s Russen – Türken – oder sind es Zechen
Ist’s ein Phantom, das die Verzweiflung schuf
Für Volk und Freiheit gibt es kein Verbrechen
So tönt von deutscher Zunge her der Ruf!
In jeder Pappel lebet da der Schreken
Zum Kriegsgewühl wird dieser Thränenort,
da klebet Bürgerblut in Pupurflecken
an dem Gebein – vom Grase starret Mord!
Wie dieser Hinblick auch die Seel umnachtet
Soe wird lebend’ger dieser Friedhofstraum
Hier – Auerswald im Graben hingeschlachtet –
Lichnowsky dort – zerfleischt an jenem Baum!
Doch sind sie mehr als jeder schlechte Bürger
Der im Gefühl des Rechts für Freiheit fiel -
Dem hier – die Kugel, dort die Faust der Würger
Auch seinen Daheim schaurig jetzt ein Ziel
Für Deutschlands Freiheit fielen diese Mahnen
Für Deutschlands Freiheit floß dies Bürgerblut!
So zeig auch Deutschland würdig dich den Ahnen
Und Nähr der Freiheitsflamme Himmelglut!
Dies ist das Lied – das wir so oft gesungen –
Für Freiheit – und das heil‘ge Menschenrecht!
Dies ist die Freiheit die Berlin errungen
für uns - und für das späteste Geschlecht.
Und will Verrath die Hohe uns verkümmern,
die segensreich umschwebt bald unsern Herrd,
dann reiße Volk sein Regiment in Trümmern
Und habe dich des Meschenrechtes werth!

 


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Wir zogen mit, wenn auch ein Sturm im Grimme
Die Woge in dem Wogendrang zerschellt
Denn Volks Stimme ist ja Gottes Stimme
Ein Gott ist es, der unsre Fahne hält“
Für die von Gott verliehne Freiheit fallen
Möchte ich mit Gott . der liebreich sie uns gab
Wenn meine Kinder auch dann baldigst wollen
An Allerseelen – zu des Vaters Grab.
Ad. Brüncker
Köln, am 1. Nov. 1848

Meinem Freunde Carl Koch
Aus Zuneigung abgeschrieben 1/11 48.

(Katharina Thielen 28.10.2023)

Literatur:

Udo Mattusch, Lieder der März-Revolutio 1848, in: Petitionen und Barrikaden. Rheinische Revolution 1848/49, Münster 1998, S. 230-233.

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