BIOGRAPHIEN

Nebenlande und Laboratorien der Moderne. Der preußische Niederrhein im 18. Jahrhundert

Im territorialen Flickenteppich der Rheinlande teilten die preußischen Besitzungen mit zahlreichen anderen den Charakter von Nebenlanden, die zu einem weit entfernten dynastischen Machtzentrum gehörten. Unter Friedrich Wilhelm I. und Friedrich II. entwickelte sich das Königreich Preußen zu einem zentral verwalteten frühmodernen Staat und stieg in die Riege der europäischen Großmächte auf. Die abgelegenen preußischen Gebiete am Niederrhein wurden von der dynamischen gesamtstaatlichen Entwicklung jedoch nur unvollkommen erfasst.

Hier unterschied sich die Agrarverfassung grundlegend von der in den ostelbischen Gebieten. Der hiesige Adel bewirtschaftete seine Güter nicht selbst, und die bäuerlichen Besitzrechte zählten zu den besten im Reich. Die Bevölkerungs- und Städtedichte war deutlich höher als östlich der Elbe, das Gewerbe war weiter entwickelt und  Stadt und Land ließen sich nicht so eindeutig trennen. Diese Nebenlande waren wiederum unter sich ebenfalls sehr heterogen strukturiert. Das ganz agrarisch ausgerichtete Oberquartier Geldern verfügte über eine durchweg katholische Bevölkerung. Das Fürstentum Moers dagegen war gewerblich hoch entwickelt und hatte eine reformierte Bevölkerungsmehrheit. Das gemischt-konfessionelle Herzogtum Kleve schließlich war seit Jahrhunderten dynastisch, administrativ und wirtschaftlich eng mit der westfälischen Grafschaft Mark verbunden. Gemeinsam war den preußischen Gebieten am Niederrhein noch eine starke Orientierung an den benachbarten, in Sprache und Mentalität eng verwandten Niederlanden.  

Diese Gebiete ließen sich nur unzureichend in das Korsett einer zentralen, integrativen Wirtschafts- und Militärpolitik zwängen. Der einheimische Adel, weitgehend aus seinen angestammten landständischen Rechten verdrängt, verweigerte größtenteils den preußischen Staatsdienst. Die bürgerlichen Eliten, denen das Selbstverwaltungsrecht in ihren Städten entzogen war, zeigten sich gegenüber zentralen Bestrebungen eher renitent. Und selbst die königlichen Beamten setzten die Anweisungen aus der Zentrale längst nicht immer in gewünschtem Maße um.

Allgemeines Landrecht für die preußischen Staaten, 1.Teil, Bd.1, 2.Aufl. Berlin 1794, Frontispiz. Allegorie der Gerechtigkeit unter Portraitmedaillon Friedrich Wilhelms II., Samuel Ringk, Kupferstich nach Bernhard Rode © LVR-Niederrheinmuseum Wesel

Im politischen Konzept Friedrich Wilhelms I. besaßen die westlichen Territorien, die etwa 20% der gesamten Staatsfläche einnahmen, einen ähnlich hohen Stellenwert wie unter seinen beiden Vorgängern. Friedrich Wilhelm I. schuf 1722/23 mit dem “Generaldirektorium“ in Berlin eine neue zentrale Verwaltungsbehörde für Finanzen und Wirtschaft und mit den Kriegs- und Domänenkammern, darunter auch eine in Kleve, ihre nachgeordneten Provinzialbehörden. Die Kantonsverfassung 1733 zur geordneten Ergänzung des Heeres wurde auch auf den preußischen Niederrhein übertragen, jedoch bereits 1748 von seinem Nachfolger Friedrich II. wieder aufgehoben. Mit der Eroberung und Behauptung Schlesiens seit 1741 hatte sich das innere Schwergewicht des Staates endgültig im Osten etabliert.  

Während des Siebenjährigen Krieges hatten besonders die niederrheinischen Gebiete Preußens unter der fast durchgängigen französischen Besetzung von 1757 bis 1763 zu leiden. Erhebliche Kriegsschäden, Bevölkerungsrückgang und eine hohe Verschuldung waren die Folgen. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts verstärkte sich auch deswegen  die Sonderstellung dieser Gebiete innerhalb des Gesamtstaates. Wirtschaftspolitische Fehlentscheidungen der Zentralgewalt, wie etwa die 1766 hier eingeführte und bald darauf wieder aufgehobene Steuerregie, verstärkten diesen Status. 1770 wurde Geldern in die ständische Selbstverwaltung entlassen und die übrigen niederrheinischen Gebiete waren praktisch aus dem gesamtpreußischen Wirtschaftsraum ausgeschieden. 

Entstehende Spielräume wurden von Ständen und Kaufleuten genutzt, auch von hier wirkenden hohen Beamten, die nicht zufällig später zum engeren Kreis der Reformer gehörten. Gegen Ende des 18. Jahrhunderts, gefördert auch von einer nun modifizierten Wirtschaftspolitik, machte sich am preußischen Niederrhein und im preußischen Westfalen ein deutlicher wirtschaftlicher Aufschwung bemerkbar. Von den westlichen Provinzen gingen vielseitige Modernisierungsimpulse auf den Gesamtstaat aus. 
  
Der Aufbruch in die Moderne war natürlich nicht nur ökonomisch und administrativ definiert. Während der Regierungszeit Friedrichs des Großen erfolgte eine Intensivierung der kulturellen Westbindung Preußens. Insbesondere dem Niederrhein kam diesbezüglich wieder eine Transferfunktion zu. Als Sinnbild dafür kann die erste Begegnung Friedrichs II. mit Voltaire 1740 auf Schloss Moyland bei Kleve gelten. Aus der von beiden angedachten "Republik der Philosophen" im klevischen Land ist nichts geworden, aber das Fenster zur Aufklärung und zur westeuropäischen Moderne blieb hier geöffnet.

Literatur:

Horst Carl, Das 18. Jahrhundert (1701-1814) – Rheinland und Westfalen im preußischen Staat von der Königskrönung bis zur „Franzosenzeit“, in: Georg Mölich/ Veit Veltzke/ Bernd Walter (Hg.), Rheinland, Westfalen und Preußen. Eine Beziehungsgeschichte, Münster 2011, S. 45-111

Horst Carl, Okkupation und Regionalismus. Die preußischen Westprovinzen im Siebenjährigen Krieg, Mainz 1993

Johannes Kunisch, Friedrich der Große. Der König und seine Zeit, München 2004

Clemens von Looz-Corswarem, Die westlichen Landesteile, in: Jürgen Ziechmann (Hg.), Panorama der friderizianischen Zeit. Friedrich der Große und seine Epoche. Ein Handbuch, Bremen 1985, S. 695-704

Ilja Mieck, Preußen und Westeuropa, in: Wolfgang Neugebauer (Hg.) unter Mitarbeit von Frank Kleinehagenbrock, Handbuch der preußischen Geschichte, Bd. 1, Das 17. und 18. Jahrhundert und große Themen der Geschichte Preußens, Berlin [u.a.] 2009, S. 411-851

Ernst Opgenoorth, Die rheinischen Gebiete Brandenburg-Preußens im 17. und 18. Jahrhundert, in: Peter Baumgart (Hg.), Expansion und Integration. Zur Eingliederung neugewonnener Gebiete in den preußischen Staat, Köln [u.a.] 1984, S. 33-44

Unterthemen: 

> Lehnseid der Geldrischen Stände in der Landessprache

> Beleidigungen

> Verhör in Wesel - Ein Akt des preußischen „Königsdramas“ am Niederrhein

> Treffen in Moyland – Friedrich der Große und Voltaire

> Ein Vivatband auf den Sieg bei Krefeld

> Ein Diener des Staates – Eine (fast) exemplarische Beamtenlaufbahn

> Schiffbarmachung der Ruhr

> Offizier und Tüftler - Der Ingenieurberuf im 18. Jahrhundert 

< Zurück zum Überblick "Brandenburg-Preussen am Niederrhein (17./18. Jh.)"

Sucheingabefeld

Ofenplatte, Vivat Rex Borussiae, mit Zepter und preußischer Königskrone, Kleve 1708, Eisenguss © LVR-Niederrheinmuseum Wesel